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Porto – ein Erbe ganz anderer Art

Von Maralde Meyer-Minnemann

Es war einmal ein pechschwarzer kleiner Kater namens Pichelim. Er lebte in einer Stadt, die an einem Fluss, aber auch am Meer liegt, in einem Haus gleich hinter dem Strand bei einer Familie mit vielen Kindern.

Pichelim liebte es, sich zu den Anglern auf die Leuchtturmsmole zu setzen, wo er manchmal einen kleinen Fisch geschenkt bekam. Er wanderte durch die Gassen des Vororts am Meer, sprang über Gartenmauern in verwilderte Gärten, wo er sich mit anderen Katzen traf, die weit herumgekommen waren und ihm von der riesigen, doppelten Brücke erzählten, die über den Fluss zu den Weinkellern führte, in denen es reichlich Mäuse gab. Und er begleitete seinen Herrn an den Strand und schaute zu wie der Mann, der aus Hamburg in diese andere Stadt gekommen war, bis zum Gil Reu, dem weit ihm Meer liegenden Felsen hinausschwamm.

Die Geschichten von Pichelim erzählte unser Vater meinem Bruder und mir als wir klein waren Sonntagsmorgens im Bett. Wir lagen dann, jeder in einen Arm geschmiegt da und lauschten gebannt den Abenteuern des kleinen Katers und stellten uns diese fremde Welt vor.

Jahre später bestiegen wir mit unserer Mutter in Antwerpen ein Schiff, das uns durch die stürmische See der Biskaya (da rollte die Suppenschüssel quer über den Tisch auf den Kapitän zu – kein Seemannsgarn! – und ich schaffte es, unter den strengen Blicken der von Rehen und allerlei Getier umringten Namenspatronin des Schiffes  seekrank gerade noch an Deck. Das Schiff hieß Fauna...) an die Mündung des Flusses mit dem goldenen Wasser brachte. Dass es golden war, wussten wir von Pichelim.

Damals konnten Schiffe nur bei Flut in den Hafen von Porto gelangen. So hieß die sagenumwobene Stadt. Als wir ankamen, war Ebbe und wir wurden, obwohl wir vor Aufregung darüber, die ferne Küste bald von Nahem zu sehen, knallwach waren, zum Mittagschlaf in die Kajüte geschickt. 1950 fanden Mütter noch, dass Kinder von nicht ganz Sieben (ich)- und Fünf (mein Bruder) noch Mittagsschlaf halten mussten. Wir schliefen natürlich nicht, sondern warteten.

Irgendwann setzte sich das Schiff in Bewegung. Wir rannten an Deck. Die Küste kam näher. Da war ein Leuchtturm mit einer langen Mole. Auf der Mole kleine winkende Gestalten. „Das ist Eure Familie“, erklärte unserer Mutter. Die Geschwister meines Vaters, ihre Männer bzw. Frauen, Kinder. Die kleinen Gestalten winkten, rannten stiegen in ein paar Autos, fuhren, stiegen wieder aus, winkten wieder. Diesmal standen sie zwischen riesigen Palmen, den ersten Palmen meines Lebens, die am Ufer eine Allee bildeten. Später lernte ich, dass das der Passeio Alegre war. Ein hübscher Park mit einer – was ich erst wiederum viele Jahre später feststellte – hinreißenden Jugendstilbedürfnisanstalt.

Auf die Palmenallee folgten kleine Häuser, vor denen Wäsche an gespannten Leinen flatterte. Die Autos mit den Gestalten, die meine Familie sein sollten, begleiteten uns am Ufer. Nachdem das Schiff eine weite Kurve gefahren war, ging es vor einem großen, grauen Gebäude mitten im Strom vor Anker. Das Fallreep wurde heruntergelassen, eine kleine Barkasse kam, in die die wenigen Passagiere (die Fauna war ein Frachter der Neptunlinie aus Bremen, der auch Passagiere mitnahm) und deren Koffer verladen wurden, und das kleine Schiff tuckerte an Land.

In dem großen, grauen Gebäude erwartete uns der erste einheimische Portugiese meines Lebens (Portugiesen kannte ich durchaus, zum Beispiel den damaligen Vizekonsul, der mit den Augen rollte und uns dazu „Eu sou o pirata de perna de pau“ vorsang. Diese Liedzeile ist übrigens der erste portugiesische Satz, den ich gelernt habe). Der erste einheimische Portugiese war klein, rund, schnurrbärtig, braungebrannt und trug weiße Handschuhe, mit denen er unsere Koffer durchwühlte.

Vor dem großen, grauen Haus, das, wie mir nun klar war, das Zollgebäude war, standen die Autos, die uns begleitet hatten und davor die Gestalten, die gewinkt hatten: die Familie. Ich hatte gar keine Zeit mehr, mich zu fragen, was ich sagen sollte oder so, denn schon wurde ich von all diesen wildfremden, herzlichen Leuten geküsst.

In den nächsten Tagen lernte ich „die Familie“ kennen. Als ich kurz darauf Geburtstag hatte, gab es die größte Feier, die ich je erlebt hatte. Da waren zum einen die tios“, will heißen 5 tias – Tanten und 5 tios – Onkel. Dazu mindestens 10 primos – Vettern und Kusinen. Außerdem noch die Freunde der tios mit deren Kindern, die natürlich alle auch zur Familie gehörten.

Und ich lernte Foz kennen, die Welt des kleinen Pichelim. Meinen Großvater habe ich nie kennengelernt, aber ich stelle mir immer vor, wie er zum Gil Reu schwimmt. Ob dieser Felsen wirklich so heißt, weiß ich bis heute nicht. Aber es hörte sich so an. Daß der Ort, an dem ich mich befand, Foz hieß, habe ich allerdings erst ganz allmählich begriffen (Man sagt ja einem Kind nicht: Du bist jetzt in Foz.).Als ich zwei Jahre später wieder dort war, sah ich, daß vorn an den gelben Straßenbahnen mit den merkwürdig wimmernden Bremsen „FOZ“stand. Ich konnte mittlerweile lesen und kannte „FOX, die gute Zigarette“ aus den Rororo-Taschenbüchern und fragte mich lange, ob Foz (gesprochen Fots) auch eine Marke sei, bis irgendwann, in einem magischen Moment das gelesene „Fots“ mit dem gesprochenen Foz zusammenfiel und ich begriff, wo ich war, und dass im Portugiesischen ein „z“ nach einem Vokal wie ein leichtes, feines, stimmhaftes „sch“ gesprochen wird.

Im Laufe der Jahre und der vielen Male, die ich in Porto bei meiner Familie war, lernte ich nicht nur Portugiesisch, sondern auch, was sich alles nicht gehörte (fica mal).

Zum Beispiel einfach allein in die Stadt gehen und auf den Turm der Clérigos-Kirche steigen. Oder durch die Altstadt spazieren (que horror!!!). Und ich lernte, was für eine vertrackt komplizierte Sache der namoro  ist. Dass eine meiner Kusinen erst vom vielen Sitzen auf der Steintreppe vor dem Haus eine Blasenentzündung bekommen musste, bevor ihr zukünftiger Ehemann, das Haus ihrer Eltern betreten durfte. Hin und wieder musste ich meine Kusinen als arame farpado, Stacheldraht, begleiten, wenn sie abends mit ihren Freunden auf der Avenida spazieren gehen wollten, auf der so viele Leute unterwegs waren, dass kaum etwas „passieren“ konnte. Wahrscheinlich sollte ich verhindern, dass sie sich am Strand verkrümelten. Sie versuchten es nicht einmal. Sie reihten sich ein und marschierten züchtig erst in die eine Richtung und dann in die andere. Ich folgte in diskretem Abstand und schaute mir die Leute an.

 Die Jungs, den Pullover über der Schulter, die Mädchen im braven Kleid mit Petticoat (es handelt sich um die 50er). Die ältere Generation: die Damen im ewigen Hemdblusenkleid mit Kette und Ohrringen, von den Herren mit festen Griff am Ellenbogen geleitet. So machte es auch mein Onkel Ramiro, wenn er, meine Tante Elvira mit der einen und mich mit der anderen Hand gepackt, mit uns ins Kino ging. Ins Coliseu zum Beispiel. Richtig aufgerüscht. Erste Versuche mit make-up. Und dann die Pause, in der alle wie auf der Avenida im Foyer kreisten und jeder jeden anguckte. Hinterher ging es auf ein Bierchen (für den Onkel) zu CUF.

 Das Coliseu ist nach langen Jahren des Verfalls heute zum Glück restauriert, der Veranstaltungsort für Konzerte und andere Events. Die CUF gibt es nicht mehr. Dort sind Luxuswohnungen entstanden. Auch die Avenida ist nicht mehr, was sie einmal war. Die zweistöckigen Häuser sind Hochhäusern gewichen. Foz  sieht von See wie ein kleines Copacabana aus. Die Jungs tragen zwar immer noch den Pullover um die Schultern gelegt und vor dem Hals an den Ärmeln zusammengeknotet. Die Mädchen aber gehen locker in Jeans und müssen Gott sei Dank nicht mehr mit ihren Freunden auf der Steintreppe vor dem Haus hocken. Man fährt inline-skates wie sonstwo in Europa. Aber die alten Herrschaften gibt es noch: Ihn im Anzug und sie im Hemdblusenkleid. Und sie gehen immer noch, abends einmal die Avenida hinauf bis zum Molhe und dann wieder zurück. Das alte Café ist ein Pizzaladen, aber dafür gibt es viele neue Cafés direkt am Strand.

 Wenn ich einmal im Jahr in Porto bin – aus beruflichen Gründen muss ich etwa einmal im Jahr nach Lissabon fahren und nutze immer die Gelegenheit, eine Herzensreise nach Porto zu meinem Bruder zu machen (für ihn war unsere erste Reise nach Portugal die Reise an seinen zukünftigen Wohnsitz), setze ich mich in die Straßenbahn der Linie 1 (die, auf der FOZ steht ) und fahre am Douro entlang in die Stadt. Dann komme ich am großen, grauen Haus vorbei, das heute ein Kongress- und Ausstellungszentrum ist. Steige bei der Igreja de São Francisco aus, in der ich nur einmal war, weil ich weiß, daß ich nie wieder erleben werde, wie in der damals noch nicht restaurierten, düsteren Kirche durch ein Fenster das Sonnenlicht auf einen Teil der vergoldeten Holzschnitzerei fiel und sie zum Leuchten brachte. Freue mich, dass der Mercado Borges noch steht, und dass es den Korkladen noch immer gibt und denke an den Gitarrenmacher nebenan, bei dem mein Bruder vor vielen Jahren Unterricht nahm. Ich wandere die Rua Mouzinho da Silveira zum Bahnhof São Bento hinauf, gehe in die Halle, betrachte die Azulejos und erinnere mich daran, wie wir, mein Bruder und ich, dort vor vielen Jahren, allein (ich war damals zwölf – und die Familie schlug die Hände über dem Kopf zusammen) die Eisenbahn nach Régua genommen haben, weil mein Vater fand, wir sollten mal sehen, wo der Portwein wächst.

 Die großen Cafés an der Avenida dos Aliados sind Autosalons geworden, das letzte zur Hälfte ein MCDonald`s. Die Brasileira war das letzte Mal geschlossen, davor gab es dort ein Selbstbedienungsrestaurant. Aber das Majestic gibt es noch. Da sitze ich nostalgisch und trinke meinen Kaffee, bevor ich die Rua da Santa Catarina nicht zum neuen Einkaufszentrum hinauf wandere, sondern vorher zum Bulhão-Markt abbiege. Dort schlafen die Katzen noch auf den Schindeldächern, hängt beim Schlachter ein trauriger Schweinskopf neben einem traurigen Kruzifix.

 Gegenüber lag einst die Confeitaria von Tio Ramiro, in deren hinteren Büroräumen vor Jahrzehnten die Buchhalter mit Alpakaärmelschonern an Stehpulten standen... Jetzt ist da ein Supermarkt. Unten an der Praça da Liberdade, gleich neben den Bushaltestellen, gibt es aber noch zwei von diesen alten Confeitarias. Dort setze ich mich hinein, um einen Jesuita zu genießen. Die Madams in den Hemdblusenkleidern sind auch da. Oder in den etwas zu kurzen, etwas zu engen Röcken..

 Zurück nehme ich meist den Bus bis zum Passeio Alegre. Dann wandere ich unter den Palmen am Fluss entlang, schaue den Anglern zu. Manchmal schleicht dort ein kleiner, pechschwarzer Kater herum. Ein Nachfahre von Pichelim?





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Portugal-Post Nr. 14 / 2001