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Schönes Meer

Von Barbara Mesquita

Was tun die Portugiesen in Hamburg am liebsten, wenn sie nicht arbeiten? Sie widmen sich dem convívio. Und was ist das, fragt der Nichtportugiese? Auf keinen Fall eine Freizeitbeschäftigung im modernen Sinne des Wortes. Convívio ist vielmehr ein Relikt aus jener Zeit, als das Leben der Menschen, vor allem der auf dem Lande, noch nicht in Arbeit und Freizeit geschieden war, weil es freie Zeit kaum gab. Die Arbeit folgte, anders als heute, dem Rhythmus der Sonne, des Regens und der Jahreszeiten, und eigentlich hatte man immer etwas zu tun. Nur tat man es eben meist gemeinsam, saß beieinander, redete und aß und sang zusammen die Lieder, die schon die Großeltern gesungen hatten.

In Portugal sind diese vormodernen Zeiten gerade erst vergangen. Und weil die meisten Portugiesen, die es seit den sechziger Jahren nach Hamburg verschlagen hat, ihre Wurzeln in irgendeinem Dorf hinter den Bergen in Trás-os-Montes oder im sonnenverbrannten Alentejo haben, in das sie Jahr für Jahr zurückkehren, ist die Erinnerung an diese alten Bräuche und Traditionen in ihnen noch lebendig. Also sitzt man, wenn man nicht arbeitet, beieinander, isst, redet und singt und pflegt den convívio.

Zum Beispiel im Bela-Mar auf der Veddel. Einmal im Monat gibt es hier, in Hamburgs ältestem portugiesischen Restaurant, Fado-Musik. Die letzte der ehemaligen Auswandererhallen ist seit über fünfundzwanzig Jahren Treffpunkt für die in Hamburg gestrandeten Portugiesen, Auswanderer auch sie aus ihrer lusitanischen Heimat.

Das „Schöne Meer“ liegt mitten im Nirgendwo zwischen Wilhelmsburger Reichsstraße, S-Bahn und einer Tankstelle. Maria, die Wirtin, begrüßt alle Gäste herzlich mit Handschlag, manche der Frauen mit Küsschen links und rechts auf die Wange, und platziert sie an einen der zahlreichen Tische des weitläufigen Lokals. Paare kommen, die sich zu anderen Paaren gesellen, Familien mit meist halbwüchsigen Kindern, die an langen Tafeln zusammen mit Freunden Platz nehmen, Junggesellen, die sich zu anderen einzelnen Männern oder zu einer der Gruppen setzen. Händeschütteln, Begrüßungsküsse für die Frauen, Schulterklopfen für die Männer. Fast alle haben sich feingemacht, die Frauen tragen Kleid oder Kostüm, die Männer Anzug und Krawatte, die Mädchen mit kastanienbraunem Haar und blitzweißen Zähnen den letzten Schrei der Mode.

Das einfache Restaurant mit seinem wenig südländisch anmutenden Fachwerkinterieur, Spitzengardinen und schmiedeeisernen Lampen füllt sich in Windeseile. Unter den Gästen sind auch viele Nichtportugiesen. Bald schon stehen überall riesige Platten mit gegrilltem Thun- und Tintenfisch und deutschen Bratkartoffeln auf den Tischen, dazu Karaffen mit Rot- und Weißwein. Zum Essen wird munter geplaudert, Neuankömmlingen wird freundschaftlich aus der Ferne zugewinkt. Man kennt sich. Belarmino, der Wirt, begrüßt nun ebenfalls seine Gäste, indem er von Tisch zu Tisch geht, dem einen oder anderen auf die Schulter klopft, fragt, ob es schmeckt, wie es geht, was der oder jener macht, der nicht mitgekommen ist. Der Lärmpegel steigt.

Als zu vorgerückter Stunde die meisten beim Nachtisch oder beim Kaffee angelangt sind, geht das Deckenlicht aus. Senhor Belarmino und Senhor Orlando machen es sich auf zwei Barhockern an der Wand in der Mitte des Saales bequem, der eine mit seiner zwölfsaitigen, der Laute verwandten portugiesischen Gitarre, der andere mit seinem sechssaitigen Instrument. Als die beiden Mitfünfziger die ersten Töne erklingen lassen, wird es schlagartig ruhig unter den beinahe hundert Gästen. Das ist die Stunde Chico Fialhos. In dunkelgrauem Einreiher, mit passendem Halstuch und gestutztem Schnauzer, tritt der Barde schwer bestimmbaren Alters, die Hände in den Hosentaschen, durch dicke Brillengläser blinzelnd, mit erhobenem Kinn und auf den Zehenspitzen wippend, vor sein Publikum. Er schließt die Augen und beginnt, mit gedrungener Stimme die ersten Akkorde eines Fado zu singen, eines jener urportugiesischen Lieder, in denen sich Heim- und Fernweh, Melancholie und Sehnsucht gleichermaßen ausdrücken. „Aber für den Fado muss man auch eine Menge üben und arbeiten“, erklärt der Künstler nach dieser ersten Darbietung schulmeisterlich den anwesenden Deutschen. „Und trinken“, wirft Senhor Orlando von hinten ein. Alles lacht. Chico wippt auf den Zehen, reckt sein Kinn und sich selbst mit einem Schulterruck noch ein wenig mehr in die Höhe. Wer wüsste nicht, dass zum Fado eine Hingabe gehört, die manchmal nur der Wein schenkt? Schließlich hat der Abend ja eben erst begonnen.

Nach zwei weiteren Liedern zum Aufwärmen wird der gespreizte Herr von der zierlichen Maria de Lurdes abgelöst, deren Mann und Kinder erwartungsvoll vom Tisch in der Ecke zu ihr herüberschauen. Die stilgerecht in eine schwarze Stola mit langen Fransen gehüllte fadista stellt sich bescheiden und ohne Umschweife vor die Zuhörer und stimmt eine allseits bekannte Melodie über die Mouraria, das alte Lissabonner Maurenviertel, an. Die Sängerin braucht keinen Wein. Gleich mit den ersten Tönen ihrer zwar kleinen, aber zutiefst anrührenden Stimme zaubert sie jene so wunderschön traurige, sehnsuchtsvolle Seelenlage in den Saal, die wohl bei allen der versunken Lauschenden ähnliche Erinnerungen an heimatliche Klänge, Farben und Gerüche und an ihnen nahestehende, ferne Menschen heraufbeschworen mag. Wie selbstverständlich und voller Innigkeit moduliert die Frau mit dem tiefrot geschminktem Mund im bleichen Gesicht das klagende Lied, in dessen furiose Schlussakkorde bereits tosender Beifall bricht. „Lindo“, rufen viele spontan, „schön!“ Bei der nächsten Weise wird bereits kräftig mitgesummt, der Text mitgemurmelt.

Es folgen noch zahlreiche Darbietungen: Ein gemütlich wirkender, korpulenter Herr aus der Hafenstadt Setúbal, der schmissig ein paar Fados der fröhlicheren Sorte zum besten gibt. Ein energischer, untersetzter junger Bartträger mit viel Goldschmuck, der gekonnt ein nicht enden wollendes Sprechgedicht zu den Klängen der Gitarre deklamiert und dafür Riesenapplaus erntet. Irgendwann singt auch Senhor Belarmino selbst mit seiner sanften Stimme bekannte Lieder wie das von Coimbra do Choupal, in deren Refrain alle einstimmen. Ihren zweiten Auftritt des Abends beschließt Maria de Lurdes mit einem Fado für ihren Mann, mit dem sie gerade ihren neunzehnten Hochzeitstag gefeiert hat. Als der Gatte sie nach ihrem Auftritt vor aller Augen freundlich umarmt und küsst, ist der Abend zwar noch lange nicht vorbei, aber einen schöneren Moment zu gehen kann es nicht mehr geben.





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Portugal-Post Nr. 15 / 2001


Zeichnung von Joaquim Pais de Brito