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Ein portugiesisches Museum geht auf Reisen
Museumspädagogik als Mittel der Integration

Von Susanne Brose *

Das Gulbenkian-Museum Lissabon ist zu Besuch in Hamburg! Will heißen: Teile seiner Sammlung alter und moderner Kunst samt einer eigens an dieser Sammlung ausgebildeten deutschen Museumspädagogin. Derzeit gastiert es als "reisendes Museum" in den deutsch-portugiesischen Grundschulklassen der Rudolf-Roß-Gesamtschule in der Hamburger Neustadt. Seit November 2002 macht das portugiesische "Museum auf Reisen" jeden Montag Nachmittag Station in den Kunsträumen der Rudolf-Roß-Gesamtschule. 17 portugiesisch- und deutschsprachige Kinder der 1. bis 3. Klasse des zweisprachigen, deutsch-portugiesischen Zweiges der Rudolf-Roß-Grundschule nehmen daran teil.

Sie freuen sich, wenn vor ihnen ein kleines improvisiertes Museum in Form von großformatigen Reproduktionen auf Staffeleien entsteht. "Das Museum geht in die Schule, die Schule geht ins Museum" ist der Slogan des von der Fundação Calouste Gulbenkian ursprünglich in und für Portugal entwickelten museumspädagogischen Konzeptes. Dass es nun auch in Hamburg, der Stadt mit der größten portugiesischen Emigrantengemeinde Deutschlands, "in die Schule" gehen kann, liegt an folgendem:

Als zweisprachiges Kunstunterrichtsangebot mit einem starken Bezug zur portugiesischen Kultur fügt sich das "reisende portugiesische Museum" bestens ein in den an der Rudolf-Roß-Schule praktizierten Integrationsansatz, der Pflege von Sprache und kulturellen Wurzeln der Kinder mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungswesen Raum zu geben. Und auch deutschen Kindern durch bilinguale Alphabetisierung vertiefende Begegnungsmöglichkeiten mit anderen Kulturen anzubieten. Ziel ist: neue Wege zu erproben für interkulturelles Verstehen in multinationalen Gesellschaften.

Unter den 56 für das Kinder-Kunst-Projekt zusammengestellten Kunstwerken der Sammlungen der zwei Gulbenkian-Museen (für alte und moderne Kunst) sind neben internationalen Werken aus allen Epochen, von der Antike bis zur Gegenwartskunst, eine große Zahl portugiesischer Maler und Malerinnen vertreten. Neben dem "Portrait eines alten Mannes" von Rembrandt und dem der schönen "Jungen Frau" von Ghirlandaio werden die expressiv-bunten, oft unheimlichen Figurenwelten der portugiesischen Malerin Paula Rego oder die gestischen Abstraktionen des ebenfalls portugiesischen Júlio Pomar den Kindern sehr bald zu Vertrauten. Für die portugiesischen Kinder in Deutschland eine einzigartige Möglichkeit, ihre "eigene" Kultur kennen zu lernen, ebenso wie für die deutschen Kinder, sich der "Nachbarkultur" zu nähern.

Olhar, falar, brincar, criar ("Schauen, sprechen, spielen, gestalten") sind die Zauberworte, mit denen man sich den Bildern nähert. An den Wahrnehmungen der Kinder orientierter Dialog, darstellendes Spiel, Bewegungs- und Wortzuordnungsspiele, "kreatives Schreiben", Museumsbesuche, die Einladung eines "echten" Künstlers in die Schule und natürlich das eigene künstlerische Tun machen diese Art Kunstunterricht zu tiefen, lebendigen Erlebnissen.

An den Ablauf der andersartigen Kunststunden des "reisenden Museums" haben sich die Kinder der Rudolf-Roß-Schule gewöhnt: Bevor in der zweiten Unterrichtsphase das kreative Chaos zu toben beginnt, gibt es in der ersten Phase die Bildbetrachtungen, mit denen die Entdeckungsreise in die internationale Welt der internationalen Bilder beginnt. "Mit allen Sinnen" wird spielerisch-ganzheitlich und in beiden Sprachen nicht nur das Machen sondern auch das Betrachten und Verstehen von Kunst geübt. Denn auch Bilder haben viel zu erzählen. Wenn man ihre Sprache versteht, dann beginnen Farben, Formen, Linien und Rhythmen zu sprechen. Im Sinne einer Sensibilisierung für die "Lesbarkeit der Welt" also wird das Beschreiben, Verstehen und Deutenlernen der uns umgebenden visuellen Welt und ihrer Sprache geübt, auch der medialen.

In der zweiten Unterrichtsphase, der des Gestaltens, entstehen dann in Anlehnung an die betrachteten Bilder bzw. an das im Dialog Entwickelte groß- oder kleinformatige, gegenständliche oder abstrakte Malereien, Materialcollagen, Skulpturen, Fotografien, Wandgemälde oder Bilderbücher. Farben werden aus Erdpigmenten, Tapetenkleister und Sand selbst angerührt - Phantasie und Experimentierfreude sind keine Grenzen gesetzt. Aus Kartonresten entstanden zuletzt in Gestalt lebensgroßer Fabelwesen die portugiesische Legende vom "Hahn von Barcelos", in Anlehnung an die kunterbunten, lebensgroßen Papp-Skulpturen des Bildhauers José de Guimarães.

Fördern des interkulturellen Verstehens findet in diesem museumspädagogischen Programm auf vielen Ebenen statt. Fragestellungen wie "Was empfindest du als "schön" - und warum? Was empfinden/empfanden andere Menschen in anderen Ländern und zu anderen Zeiten als "schön - und warum?" entwickeln nicht nur individuelle, kultur- und zeitabhängige ästhetische Begriffe. Sie fördern den Prozess des Sich-Hineinfühlens und Verstehen-Wollens des Anderen/Fremden, sicher auch den des Sich-Anfreundens mit dem, was wir zuerst ablehnten.

Den portugiesischen und deutschen Kindern der Rudolf-Roß-Schule ist all dies nicht neu. Denn sie sind an einer Schule, die viele neue Schritte ausprobiert auf dem Wege zu einem tieferen interkulturellen Verstehen und besserer Integration. Seit dem Schuljahr 2000/2001 existiert dort der durch ein Forschungsprojekt der Uni Hamburg begleitete Schulversuch zur "Bilingualen Alphabetisierung", in welchem Kinder mit und ohne Migrationshintergrund, d.h. mit den Erstsprachen Portugiesisch oder Deutsch in gemischten Klassen auf Deutsch und Portugiesisch lesen und schreiben lernen und z.T. parallel in beiden Sprachen unterrichtet werden.

Warum? "Natürliche Zweisprachigkeit" wird hier angesichts eines zunehmend multikultureller werdenden Europas als Bereicherung angesehen, die der "glücklichen Weiterentwicklung" bedarf, d.h. der Pflege der Erstsprache/Muttersprache von Migrantenkindern. Erwiesenermaßen trägt dies wesentlich zur Förderung von deren Sprachkompetenz auch im Deutschen bei. Ebenso wie "lebensweltliche Zweisprachigkeit" sich positiv auch auf die sprachliche, kognitive und soziale Entwicklung deutscher Kinder förderlich auswirkt.

Des weiteren ist man sich in dem Ansatz bilingualer Alphabetisierung bewusst, dass "soziale Integration" von Migranten eben nicht Assimilation und damit vollkommene Anpassung an die Lebensformen der Gastkultur bedeutet, sondern eines Wissens um Wert und Besonderheit der eigenen Kultur und Sprache bedarf, einer "kulturellen Identität" also. Gerade für die Kinder schon in zweiter oder dritter Generation in Deutschland lebender Migranten geraten der innere Bezug und Kontakt zu Sprache und Herkunftsland der Eltern oder Großeltern in immer größere Ferne. "Ausländer hier wie dort" zu sein ist schmerzhafte Erfahrung vieler Migrantenkinder - mit entsprechend schlechten u.a. beruflichen Aussichten in den jeweiligen beiden Ländern.

Dass dieses Kulturen übergreifende Kinder-Kunst-Projekt des "reisenden Museums" trotz allgemeiner - und insbesondere in Hamburg herrschender - Mittelknappheit im Bildungsbereich zustande kommen kann, ist dem Engagement des Leiters der Primarstufe der Rudolf-Roß- Gesamtschule, Norbert Voigt, zu verdanken. Von der interkulturellen Idee des Projektes und der Möglichkeit angetan, ein weiteres künstlerisches Angebot in den Nachmittagsunterricht aufnehmen zu können, stellte er es der deutsch-portugiesischen Elternschaft vor - und schon war eine Finanzierung durch Eigenbeteiligung der Eltern möglich. Die Schule stellt den Raum und trägt die Materialkosten. Ein semi-privates Finanzierungs-Modell, das übrigens in Portugal mit seinem Ganztagsschulbetrieb sehr üblich ist. Die am Nachmittag neben Spielstunden und Hausaufgabenbetreuung stattfindenden qualitativ hochwertigen pädagogischen Angebote in den Bereichen Sprachen, Bewegung/Sport und Kunst (die sogenannten Actividades dos tempos livres) werden von qualifizierten Honorarkräften im Rahmen der Schulen angeboten - aber durch Unkostenbeiträge der Eltern finanziert.

Eben für den Bereich des außercurricularen Ganztagsunterrichtes des portugiesischen Schulsystems entstand seinerzeit das hier vorgestellte "Museum auf Reisen", als ein die portugiesische Pädagogik reformierendes Modell für Kunstunterricht/Ästhetische Erziehung. Mit einer völlig neuen, da ganzheitlichen Didaktik, wird das Programm des " Museums auf Reisen" seit 1996 eingesetzt. Unter dem Titel O Primeiro Olhar - Currículo Integrado de Artes Visuais wurde es von der Fundação Calouste Gulbenkian und seiner Museumspädgogischen Abteilung, dem Centro de Arte Infantil, im Rahmen eines Forschungsprojektes an einer Lissabonner Universität entwickelt. Parallel dazu entstand ein angegliedertes Fortbildungsprogramm. Seit 1998 setzen durch vom CAI/Gulbenkian-Museum ausgebildete Kunsterzieher und Künstler das reisende Museum O Primeiro Olhar an portugiesischen Ganztagsschulen (Primarstufe), aber auch in der Erwachsenenbildung (Alphabetisierung von Roma und Sinti) wie der Seniorenbildung mit ausgesprochen großem Erfolg ein. Es öffnet uns unsere Augen und lehrt uns, neben unseren vielen verschiedenen Muttersprachen die für alle gleiche internationale Bilder-Sprache zu verstehen.

Hard Stuff für die Kleinen, könnte man meinen? Doch irrt man sich gewaltig. Den Kindern macht es größten Spaß! "Who is afraid of red, yellow and blue?" Als rhetorische Frage zynisch gestellt in einem Bildtitel des amerikanischen Minimalisten Barnett Newman, sei zuletzt folgende Frage gestellt und sogleich beantwortet: Frage: Wer hat Angst vor ...PISA?! Antwort: ...Niemand!!!!!


* Susanne Brose, Dipl., (Jg. 1964), freischaffende Künstlerin und Kunsterzieherin, studierte Germanistik und Kunstpädagogik/Kunsttherapie. Von 1993 - 2001 lebte sie in Portugal. Dort Gründung der Kunstschule Lissabon "Margem Azul" und freie Mitarbeit in der museumspädagogischen Abteilung des Gulbenkian Museums für Moderne Kunst. 1999/2000 Teilnahme an der Ausbildung "O Primeiro Olhar - Currículo Integrado de Artes Visuais" der Fundação Calouste Gulbenkian. Seit vielen Jahren ist sie außerdem als Dozentin im Fach "Deutsch als Fremdsprache" sowie in der Alphabetisierung von Migrantinnen tätig. S.B. ist in Hamburg verantwortlich für die Durchführung des Kinder-Kunst-Projektes "Ein Museum geht auf Reisen - O Primeiro Olhar"
Kontakt:040/ 85 18 09 09
www.malschulelissabon.de




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Portugal-Post Nr. 22 / 2003

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Ana mit der Illustration zu einem Gedicht von S. de Mello-Breyer "No fundo do mar"




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