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Die Saudades para piano, ein Souvenir aus Lissabon

Von Christian Casdorff *

"Indem wir vom Largo de São Vicente kommen und links unter dem Seitenbogen halten, erreichen wir einen riesigen Platz, den Campo de Santa Clara, wo donnerstags und samstags die Feira da ladra besichtigt werden kann, ein malerischer Flohmarkt mit manchmal Nützlichem, manchmal Zweifelhaftem, etwas Neuem, etwas Altem, aber alles in allem wohl ein gutes Geschäft für die seltsamen Händler, die an diesen Tagen ihre Waren auf dem Pflaster an der frischen Luft feilbieten. Manchmal taucht hier wirklich etwas merkwürdig Kostbares, sei es ein Kunsthandwerk oder ein archäologisches Altertümchen auf."

So schreibt Fernando Pessoa in seinem blassen Büchlein Lissabon: Was der Reisende sehen sollte - kein Reiseführer, eher die mit fast unverschämter Noblesse und Verschwiegenheit durchgeführte Imitation eines Reiseführers. Für die drei Kollegen jedenfalls, mit denen Pessoa sich regelmäßig zum Doppelkopf-Spielen getroffen hat, die Herren Alberto Caeiro, Ricardo Reis und Álvaro de Campos wäre "ein malerischer Flohmarkt" ein verbotener Ausdruck gewesen - verboten wie die literarische Hilfslosigkeit-Vokabel "merkwürdig". Aber natürlich hat Pessoa Recht mit seiner verschwiegenen Blässe: Lissabon ist eine Stadt, die sich nicht aufdrängen kann; und der touristische Flaneur muss schon ein bisschen eigene Aufmerksamkeit mit dem Glück der Stunde zusammenmischen, um aus einer oberflächlichen "Besichtigung" herauszufallen ins Sehen. Der arme Flaneur muss eben selbst "etwas merkwürdig Kostbares" entdecken, damit er die verbotene Vokabel austauschen kann gegen eine Geschichte, seine Geschichte. Sonst wird er nie merken, dass Lissabon etwas merkwürdig Kostbares ist. Das hat Pessoa gewusst, und deshalb ist sein Reiseführer ein guter Reiseführer.

Was ist das für eine Stadt: Lissabon? Lissabon ist wie ein Notenheft mit Klavierstücken, das man auf der Feira da ladra aus einem arg ramponierten Köfferchen zupft. Das Heft ist die einzige Kostbarkeit inmitten von bloßem Altpapier, und es braucht etwas Zeit, um der wortreichen Händlerin verständlich zu machen, dass man wirklich nur paar Seiten erwerben möchte und nicht den ganzen Koffer, der ja auch leider sowieso viel zu unhandlich und zu schwer ist für den schon am nächsten anzutretenden Heimflug. Schließlich können wir uns einigen und der Schatz ist mein.

Der Komponist der Stücke ist Óscar da Silva. Er hat sie Saudades genannt. In all den Lissabon-Tagen zuvor haben wir es geschafft, diese portugiesische Grundvokabel für Weh- und Schwermut aus dem Wege zu gehen (was ungefähr so schwierig ist wie ein goethefreier Gang durch Weimar) - aber am Ende beweist das Wort doch seine gute Unvermeidlichkeit. Vier ruhige Klavierstücke sind es: genauestens abgeschmeckte Harmonien. Da kostet einer gelassen (und ohne billige Tricks gebrauchen zu müssen) sein Können aus. 1953 sind diese Saudades gedruckt worden - und im selben Jahr hat Óscar da Silva mit schwungvoller Schrift einem illustren Kollegen eine Widmung auf die innere Titelseite meines Exemplars gesetzt. Dreiundachtzig Jahre war er da schon alt. Später werde ich nachlesen, dass er damals gerade nach zwanzig Jahren Brasilien für den letzten Lebensrest nach Portugal zurückgekehrt war - und dass er als Jüngling noch bei Clara Schumann in Frankfurt das Klavierspielen gelernt hat!

Eigentlich ist all das ja schon schön genug - und auf alle Fälle ausreichend für ein gültiges Souvenir. Aber mein Notenexemplar hat noch eine besondere Veredelung erfahren: Irgendeine geschickte Hand hat so im Nebenbei und gleichzeitig mit sicherem Strich ein paar Federzeichnungen auf die unbedruckten Flächen geworfen. Hier zum Beispiel ein verhuschtes Geistchen - dort ein offensichtlich schwer von saudade heimgesuchtes Künstlerantlitz. Auch das äußere Titelblatt ist glücklicherweise nicht verschont geblieben. Die Zeichnung dort ist eine Geschichte für sich. Im Hintergrund in der Ecke sieht man die Silhouette eines alten Kastells (inklusive Mondenschein) - und aus diesem nackten Umriss spinnt sich ein Weg nach vorne in die Mitte des Blattes. Da ist ein junger Wanderer abgebildet. Seinen Besitz trägt er auf dem Rücken, aber sein Schritt ist leicht. Eine Tasche hält er in der Hand, aus der guckt eine zarte Blume hervor, die - bei der flotten Gangart kein Wunder - gerade zwei Blütenblätter verliert. Der Jüngling blickt zurück im Gehen. Aber seine Aufmerksamkeit muss nicht unbedingt dem Kastell gelten. Denn genau in der Mitte zwischen ihm und der Burgsilhouette ist noch eine Figur auf den Weg gezeichnet worden. Sie ist viel skizzenhafter geblieben als der Wanderer im Vordergrund. Sie ist gesichtslos - und es ist seltsam offen, was sie auf dem Rücken trägt: es könnte ebenfalls ein Rucksack sein, aber noch etwas näher liegt es, die Schemen eines Flügelpaares zu entdecken. Da kann man sich so seine Gedanken machen. Wir können diese undeutliche Figur für einen Engel halten, für den Schutzengel des Jünglings im Vordergrund. Und jetzt hat der dahinstürmende Knabe die Gestalt hinter sich endlich entdeckt. Vielleicht lässt er sie näherkommen. Vielleicht gehen sie von nun an nebeneinander. Dann wird die Gestalt natürlich nicht mehr so schemenhaft bleiben können. Sie wird ein Gesicht bekommen müssen. Und hinter ihrem Rücken wird dann eindeutig ein Rucksack zu sehen sein. So ist das eben: je deutlicher das Gesicht zu erkennen ist - desto unsichtbarer müssen die Flügel werden. Sie verschwinden nicht, die Flügel, sie werden nur unsichtbar. Denn die Gestalt bleibt natürlich der Schutzengel auf dem Lebensweg, auf dem (wie man sagt) gemeinsamen Lebensweg.

Was ist das für eine Stadt: Lissabon? Lissabon ist wie ein Notenheft mit Klavierstücken, das man auf der Feira da ladra aus einem arg ramponierten Köfferchen zupft. Und außen auf das Titelblatt hat irgendjemand eine Liebesgeschichte gezeichnet.


* Christian Cassdorf ist seit 1. März dieses Jahres Pastor in Bad Sassendorf






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Portugal-Post Nr. 26 / 2004





Christian Casdorff auf der Bergmann-Matinee