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Buchbesprechung
Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon

Von Peter Koj

Raimund Gregorius (57) ist wohlbestallter Lateinlehrer an einem Berner Gymnasium. Eines regnerischen Morgens kümmert er sich auf dem Weg zur Schule um eine verzweifelte junge Portugiesin. Diese Begegnung löst eine totale Veränderung seines Lebens aus. Ihm dem trockenen Altphilologen (die Kollegen nennen ihn "Papyrus") hat es vor allem der Klang des Wortes Português angetan, das die junge Portugiesin, nach ihrer Muttersprache befragt, über die vom Schweizer Regen benetzten Lippen bringt:

"Das o, das sie überraschend wie ein u aussprach, die ansteigende, seltsam gepresste Helligkeit des ê und das weiche sch am Ende fügten sich für ihn zu einer Melodie, die viel länger klang, als sie wirklich war, und die er am liebsten den ganzen Tag lang gehört hätte."

Raimund Gregorius erscheint nicht zum Nachmittagunterricht, sondern verschanzt sich in seiner Wohnung mit einem Portugiesisch-Lehrwerk, inkl. Audio-Kassette. Mit einer unfassbaren Schnelligkeit (man bedenke: der Mann ist Berner!) steigt er aus seinem bisherigen Leben aus und um in den Nachtzug nach Lissabon. Den letzten Anstoß dazu gibt ein schmaler Band, den er beim Kauf des Lehrwerks findet: Um Ourives das Palavras (Ein Goldschmied der Worte) eines Amadeu Prado, 1975 in Lissabon erschienen. Die Tiefe und Kühnheit der in diesem Büchlein formulierten Gedanken (so übersetzt ihm der Buchhändler gleich zu Beginn die Passage: "Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist - was geschieht mit dem Rest?") löst in Raimund Gregorius eine große Unruhe und Neugierde aus.

Auf der Suche nach Amadeu Prado, einem bald nach der Nelkenrevolution verstorbenen Arzt und Widerstandskämpfer, kommt es zu einer Reihe von ungewöhnlichen menschlichen Begegnungen. So wird die Reise nach Lissabon kein touristisches Unternehmen, sondern eine Reise zu sich selbst: ganz im Sinne von Pessoas "Buch der Unruhe" ("Eigentlich war es unglaublich, aber er war nach Lissabon gefahren, ohne daran zu denken, dass er in die Stadt des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares fuhr, der an der Rua dos Douradores arbeitete und aus dem heraus Pessoa Gedanken aufschrieb, die einsamer waren als alle Gedanken, von denen die Welt vor ihm und nach ihm gehört hatte.") Wir erinnern uns was Bernardo Soares, alias Pessoa über das Reisen sagt: "Selbst wer alle Meere durchkreuzt hat, hat nur die eigene Eintönigkeit durchkreuzt" (Buch der Unruhe, Nr. 138) oder noch drastischer: "Die Vorstellung zu reisen erfüllt mich mit Ekel. Ich habe bereits alles gesehen, was ich nie gesehen habe" (Nr. 122) .

So finden sich in dem Roman fast gar keine Informationen über das touristische Lissabon, eher schon über die portugiesische Sprache und die neuere portugiesische Geschichte, hier vor allem über das finstere Kapitel der salazaristischen Geheimpolizei PIDE. Statt dessen viel Reflexion über die menschliche Existenz, über das was uns Menschen treibt und umtreibt. Besonders in den eingestreuten Passagen aus dem fiktiven Werk des Amadeu Prado findet sich viel Kluges und Erhellendes, vielleicht auch Hilfreiches. Lissabon als Ort der Begegnung und der Reflexion, ein sicherlich durch die beiden Pessoa-Romane von José Saramago ("Das Todesjahr des Ricardo Reis") und Antonio Tabucchi ("Lissabonner Requiem") ausgelöster literarischer Trend, war auch schon Thema in Cees Notebooms "Die folgende Geschichte" (1991). Auch hier ist es ein Altphilologe, dessen Existenzkrise an den Ortswechsel nach Lissabon geknüpft ist. Nur bei dem holländischen Lehrer Herrmann Mussert vollzieht sich dieser Ortswechsel noch blitzartiger: er wacht einfach eines Morgens in einem Lissabonner Hotel auf.

Pessoanisch ist auch die Figur des Autors selbst. Hinter Pascal Mercier verbirgt sich der 1944 in Bern geborene Peter Bieri, der als Professor der Philosophie in Berlin lehrt. Unter diesem Pseudonym (Heteronym wäre wohl etwas zu hochgegriffen!) hat er bereits zwei viel beachtete Romane veröffentlicht: "Perlmanns Schweigen" (1995) und "Der Klavierstimmer" (1998). Und auch mit diesem Roman dürfte er einen interessierten Leserkreis finden, nicht nur unter ausgemachten Lissabon- bzw. Portugalliebhabern, sondern all denen die mit Pessoas Unruhe im Bauch und im Herzen auf der Suche nach sich und dem Sinn des Lebens sind.

Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon. Carl Hanser Verlag. München 2004. 495 Seiten

Am 9. Dez. liest Pascal Mercier aus seinem neuen Roman im Literaturhaus, Schwanenwik 38 (Beginn: 20 Uhr)





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Portugal-Post Nr. 28 / 2004