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Ein Licht für Hein Semke

Von Teresa Balté *
Übersetzung: Karin von Schweder-Schreiner

Ich war aus Hamburg gekommen. Er auch, an einem 9. April, nur fast vierzig Jahre früher. Nun war Pfingsten, und ich war für die Ferien spontan nach Portugal gefahren. Wir saßen im selben Konzert, beim Mangelsdorff-Quintett, im Tivoli. Francine Benoit machte uns miteinander bekannt. Wir begrüßten uns. Ich fuhr zurück nach Deutschland. Er blieb in Lissabon, druckte sein Livro de Dorle und schnitzte und bemalte die Altaraufsätze mit Darstellungen von Christus und den Propheten über die Notwendigkeit des Glaubens. Wir begegneten uns in einem anderen Konzert wieder. Kein Jazz: Bach und Brahms, glaube ich; vielleicht Telemann. Am selben Ort. Im Herbst desselben Jahres 1967. Inzwischen war ich ganz nach Lissabon zurückgekehrt. Wir gingen zu dritt essen. Mit Roswitha, einer gemeinsamen Freundin. Nie werde ich vergessen, wie wir uns nach dem Essen die Hände mit Weißwein wuschen. Mit dem Rest aus der Weinflasche, der in einem spontanen Waschungs- und Segnungsritual über unsere Finger rann. Wir begleiteten ihn zu dem Atelier, wo er lebte und arbeitete. Ein viereckiger Platz. Im Regen gingen wir durch den Park, vorbei an den schwankenden Silhouetten der Bäume. Vor dem Haus Nr. 8 blieben wir stehen. Ein dunkler Vorplatz, eine Treppe. Wir tasteten uns hinunter. Immer vier oder sieben Stufen bildeten abwechselnd einen Absatz. Schon bald sollte ich ihren Rhythmus kennen und sie wie im Flug nehmen. Wir erreichten die letzte Stufe. Es war der Unterkeller. In den Tiefen der Penha de França und des Monte Agudo. Er schloss die Tür auf ... ging voraus und beleuchtete uns den Weg durch den engen Korridor voller Bücher und Skulpturen, zündete eine Kerze auf einem Leuchter an, dann einen Leuchter auf den Holzregalen... wir kamen an der Glockenecke vorbei, erreichten das Wohnzimmer-Schlafzimmer-Atelier - "die Stube" ... den einzigen Wohnraum der ganzen Wohnung ...

Ich hatte eine andere Welt betreten. Wir saßen auf Hockern und tranken Kaffee. Fast türkischen. Das helle Licht weiterer Kerzen ließ Hände und Gesichter von Figuren erkennen, warf atmende Schatten, schimmerte auf den Lippen von Masken, enthüllte auf den Wänden und an der Decke phantastische Abbildungen von Blumen, Fischen, Torsi, abstrakte Gebilde - in Rot, Blau, Purpur, Magenta. Ich war wie geblendet. Um wieder zu mir zu kommen, setzte ich die Kaffeeschale, die ich noch in den Händen hielt und die er gemacht hatte, langsam auf dem Kacheltisch ab. Ich ließ sie los. Ihre Form hatte sich meinen Handflächen eingeprägt. Ich merkte mir: den Kühlschrank - die Äpfel; die Munabata-Holzdrucke auf den von innen schließenden Fensterläden; noch mehr Bücher: Buber, Gedichte, die Schriften der Essener, Bohemia sacra - Chartres, Die Kirche von Achtamar - Kropotkin und Laotse, Grünewald, Barlach. Ich merkte mir: den Flickenteppich, die eiserne Liege, die Öllampe. Die Madonna auf der Fensterbank duftete nach Zeder. Wie geblendet kam ich zu mir: keine Sinnestäuschung. Alles wahrhaftig. Ich sah Hein Semke an. Wie er sprach. In gewichtigem Deutsch. Intensiver Blick. Helles Lachen. Er erwiderte meinen Blick und antwortete vermutlich: Das Leben ist zum Leben da, nicht zum Beten - aber auf welche Frage? Wir unterhielten uns bis spät in die Nacht. Zu dritt. Im magischen Kreis gefangen. Wo der Wind nicht heult und der Regen nichts anhaben kann ... Stimmen. Ich hörte, wie jemand sagte, es sei an der Zeit. Die Kerze auf dem Kopf der knienden Figur neben mir war erloschen. Wachs rann der Figur über die Stirn. Ich griff nach dem Gedichtband, den er mir geschenkt hatte. Wir standen auf. Im Korridor läuteten die Glocken, oder es lag an uns, als wir vorbeigingen. Wieder die Regale. Später erfuhr ich, dass sie aus den Kisten gemacht waren, in denen er seine Habe aus Deutschland mitgebracht hatte. Darüber das Selbstbildnis. Jetzt erkannte ich es besser: die sanfte Energie, das marmorne Haar. Rechts davon die Monotypie. An der Tür. Die flammende Inschrift: "Vom Du fürs Du brenne das Licht." Der Abschied. Aber ich ging nicht fort, und er blieb nicht. Hein Semke. Wir. Es gibt Lichter, die nie verlöschen.


* Witwe von Hein Semke. Studierte Germanistik an der Universität Hamburg. Zusammen mit Hein Semke veröffentlichte sie das Buch A coragem de ser rosto, Lissabon 1996 (INCM). Dieser Bericht über ihre erste Begegnung mit Hein Semke wurde am 25. Juli 1997 verfasst.




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Portugal-Post Nr. 28 / 2004


Der Künstler Hein Semke, Aufnahme von 1972




"Hommage an die Frauen", Holzskulptur 1971