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ESSA NOSSA DITOSA LÍNGUA XXI
Saudade und kein Ende (Teil 2)

Von Peter Koj

Wenn es um Portugal geht, darf ein Wort nicht fehlen: saudade. Im ersten Teil bin ich dem Ursprung dieses Begriffes nachgegangen und wie er durch die Romantiker und Saudosisten seine "typisch" portugiesische Ausprägung gefunden hat, d.h. er wird als ein Gefühl beansprucht, das nur die Portugiesen haben können. Und noch heute, nach Nelkenrevolution, Entkolonialisierung und EU-Anschluss, geht es nicht ohne irrationale und nationalistische Töne ab, selbst wenn ein so universaler und nüchterner Denker wie Eduardo Lorenço sich dem Thema nähert. In seinem Artikel Nostalgia e Saudade (im Jornal de Letras vom 6.3.1990) grenzt er zuerst einmal die saudade vom Plural ab, z.B. in ter saudades, was soviel wie "Sehnsucht/Heimweh haben" heißt. (Man kann es übrigens auch wieder abstellen, wie der Ausdruck matar saudades zeigt!). Die saudade (im Singular) jedoch hat man nicht: Sie hat einen. Sie ist mehr als die persönlich gefärbte Nostalgie. Sie ist die zentrale Erfahrung unserer durch Raum und Zeit begrenzten und dadurch absurden menschlichen Existenz: "Ich bin saudade" ("Eu sou saudade").

Doch nach dieser existenzphilosophischen Interpretation der saudade als universeller menschlicher Erfahrung engt Lourenço in einem Schlussabsatz, der offensichtlich unter dem Eindruck der übermächtigen Tradition steht, die saudade auf die portugiesische Erfahrung ein: "Nur ein Volk, das von der Existenz als Tragödie auf erhabene Weise umgetrieben wird oder in sie so verliebt und von ihr so berauscht ist, dass es sie vergisst, konnte die saudade erfinden. Wir finden uns nicht, wie Unamuno es deutete, damit ab, dass von Nichts nichts bleibt (Anm. des Verf.: Miguel de Unamuno hatte die Portugiesen, übrigens genau wie die Galizier, als weinerliche Pessimisten charakterisiert). Wenn vom Nichts nichts geblieben ist, dann bleibt das Ganze dieses Nichts. Das ist es, was wir als saudade (er)leben, wobei wir in einer Gesamtschau die im Grunde analogen Visionen von Camões, Garrett, Pascoaes und Pessoa vereinen".

Kein Wort darüber, dass dieses mit saudade bezeichnete Lebensgefühl sich auch in anderen Literaturen und Kulturkreisen ähnlich ausgeprägt findet, angefangen von den bereits erwähnten neoplatonischen Dichtern der Toskana (die somit den Portugiesen die ihnen von Lourenço zugedachte Erfinderrolle streitig machen würden) über die deutschen Romantiker und ihren "Weltschmerz", die französische Ennui-Literatur von Chateaubriand bis Baudelaire, bis hin zur zeitgenössischen Gestaltung des Themas bei dem italienischen Schriftsteller Alberto Moravia (La Noia).

Mag sein, dass es in der portugiesischen Literatur stärker Resonanz gefunden hat als anderswo und dass eine größere Empfänglichkeit für die damit verbundenen lyrischen bis elegischen Töne vorhanden ist. Mag sein, dass in Portugal eine schnellere Bereitschaft zur larmoyanten Akzeptanz von Katastrophen vorherrscht, wie sie sich an der Geschichte der Inês de Castro, der des jungen Königs Sebastião oder dem Erdbeben von 1755 festmachen lässt. Es mag sogar sein, dass das stärkere jüdische Substrat des portugiesischen Volkes mit der Jahrtausende alten Leidensgeschichte der Juden und der daraus resultierenden Sehnsucht nach dem Erlöser (Messianismus) oder der Rückkehr in die Heimat ("Nächstes Jahr in Jerusalem") zum Aufblühen der saudade wesentlich beigetragen hat.

Dies sind sicherlich alles interessante literatur? und geistesgeschichtliche Zusammenhänge, die einer vertieften, vorurteilsfreien Analyse bedürften. Mit einer stereotypen Gleichsetzung von Portugal (bzw. Brasilien) = Heimat der saudade jedoch ist nichts erklärt und keinem geholfen. Schon gar nicht den Portugiesen selbst, für die die saudade häufig ein willkommener Vorwand für Selbstbemitleidung und Tatenlosigkeit ist.

In Augusto Abeleiras geistreicher Satire O único animal que? (1985) besucht ein amerikanischer Journalist ein Lissabon, das inzwischen zivilisatorisch so weit zurückgefallen ist, dass seine Bewohner wieder auf die Bäume gezogen sind. Er rettet sich vor einem Leoparden, indem er auf eine Pinie klettert, deren Bewohner, ein alter Lissabonner, ihn in folgenden Dialog verwickelt.

- Haben Sie schon von der saudade reden hören?
- Vage.
- Das typisch portugiesische Gefühl.
- Und die Ausländer haben keine saudade?
- Offensichtlich nicht, sonst hätten sie das Wort erfunden. Und wissen Sie, was das bedeutet?
- Ich bin Ausländer.

Darauf erklärt ihm der Alte, was saudade ist: "Die saudade ist nicht das schmerzhafte Schwelgen in der Erinnerung des Vergangenen, sondern der Wunsch, die Vergangenheit nicht in der Vergangenheit zu lassen, der Wunsch, sie gegenwärtig zu halten, sie ewig zu leben". Daher die Abwendung vom fortschrittsgläubigen Europa und das neue Credo der saudade: "Sie ist ein Ausdruck eines tiefen Impulses: die saudade nach Fliegen, die saudade nach Affen. Sagen wir: nach der ursprünglichen Natur." (Teil II, Kapitel 12)

Noch radikaler geht José Gomes Ferreira in seinen Aventuras de João sem Medo (1963) mit der saudade ins Gericht. Es ist eine im Stil einer pittoresken Fantasy-Geschichte geschriebene Satire auf das verschlafene und larmoyante Portugal Salazars, hier "Chora-Que-Logo-Bebes" ("Heul-Damit-Du-Gleich-Trinkst") genannt. Seine Bewohner, die choraquelogobebenses, sind "unglückselige Heulsusen, die sich von morgens bis abends beklagen" und die "kaum die Kraft hatten, den dunklen Schimmel der Schatten mitzuschleppen".

Während in der übrigen Welt, von der sie durch eine hohe Mauer getrennt sind, große Taten vollbracht werden, "zogen sie es vor zu heulen, diese Memmen!, geduckt in dunklen Hütten, während es draußen unerbittlich regnete und von den Tausenden und Abertausenden von Trauerweiden - die Lieblingsbäume dieser Leute - traurig die Blätter tropften. Alles dies brachte die Dorfbewohner dazu, mit triefendem Rotz herumzulaufen, ständig verschnupft wegen der Feuchtigkeit, und voll Entzücken Friedhofsliedern zu lauschen, die von Sängern in Trauerkleidung geheult wurden, begleitet von monoton wimmernden Instrumenten".

In dieser Einleitung zu seinem Roman hat Gomes Ferreira das ganze Schreckenskabinett einer pervertierten saudade-Mentalität zusammengetragen: das Verhaftetsein in der Vergangenheit (der dunkle Schimmel der Schatten), das unfähig macht, sich den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu stellen. Statt dessen weinerliche Passivität, die widergespiegelt und noch gefördert wird durch die umgebende Natur (Regen, Trauerweiden). Musikalisch wird diesem Lebensgefühl Ausdruck verliehen im Fado, denn nichts anderes ist mit "Friedhofsliedern" gemeint. Diese Verbindung saudade-Fado ist genauso stereotyp wie die von saudade-Portugal, obwohl dies von einem einseitigen Fadobild ausgeht. Neben den getrageneren, saudade-trächtigen Beispielen gibt es - zumindest in Lissabon - die Fülle frecher und sogar kämpferischer Fados (fado de desafio).

Der Einzige, der nicht in das allgemeine Gejammer einstimmt, ist, wie der Name schon andeutet, Hans Ohnefurcht (João Sem Medo). Er verlässt daher Chora-Que-Logo-Bebes und besteht eine Reihe von Abenteuern, die ihn stark machen, seine Heimat radikal zu verändern. Er trommelt seine Mitbewohner zusammen, um sie für seine revolutionären Ideen zu begeistern: "Bürger! Wir müssen dringend eine Verschwörung gegen die falsch geweinten Tränen organisieren. Und das Moos aus den Gesichtswinkeln kratzen. Und den Grünspan von den Mündern entfernen. Es lebe die revolutionäre Fröhlichkeit".

Doch seine Landsleute möchten nicht aus ihrem Trott gerissen werden und heulen nur noch lauter, um Joãos Stimme zu übertönen. João jedoch möchte den Kampf nicht aufgeben. Erst einmal aber nimmt er bei Muttern ein kräftiges Essen zu sich: Bacalhau im Tränenbad (bacalhau demolhado em lágrimas) und wartet auf ein Wunder. "Also, vorläufig, ganz vorläufig, da er so viel weinende Augen sah ... baute Hans Ohnefurcht eine Fabrik für Taschentücher auf und wurde reich. (Ah! Aber eines Tages, eines Tages! ... )"

Ende des Romans. Aber Ende der saudade?

Peter Koj
(Der Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift Arcada No. 5/1990)





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Portugal-Post Nr. 29 / 2005