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Der Gerês - gestern und heute

Von Peter Koj

A. Das Wandern ist des Portugiesen (Un)Lust
Impressionen einer Wanderung durch den Gerês (1979)

Obwohl Portugal sehr gute Möglichkeiten zum Wandern bietet, ist diese Tätigkeit hier weitgehend unbekannt. Unternehmen Portugiesen Ausflüge in die Natur, dann immer nur mit dem Auto. Dieses wird allenfalls verlassen, um sich in seiner unmittelbaren Nähe zu einem Picknick niederzulassen. So sieht man besonders am Wochenende ganze Sippen am Straßenrand mit Essen und Trinken beschäftigt. Sich in der freien Natur auszulaufen oder gar eine mehrtägige Wanderung zu unternehmen, um die Schönheiten der Natur oder die Flora und Fauna seines Landes zu entdecken, ist für den Portugiesen eine abwegige Vorstellung. Warum sich so abmühen? Wieviel schöner ist es, in geselliger Runde (companhia) zu speisen und zu plaudern. Mein Freund José Lopes, kurz "Zé" genannt, bildet da keine Ausnahme. Umso mehr überraschte es mich, als er mich bat, ihn auf meiner Gerês-Wanderung mitzunehmen. Was mochte ihn dazu bewogen zu haben? War auch er der Faszination des Gerês erlegen?

Der Gerês, mit vollem Namen "Parque Nacional da Peneda-Gerês", ist sicherlich das schönste und interessanteste Wandergebiet Portugals. Der Nationalpark wurde 1971 gegründet und ist mit seinen 70.000 ha einer der größten Europas. Er liegt im Nordosten Portugals direkt an der spanischen Grenze und umfasst das Gebiet der Serra do Gerês, der Serra Amarela und nördlich des Lima-Tals der Serra do Soajo und der Serra da Peneda. Seine höchsten Berge überschreiten zwar kaum die 1500m-Grenze, haben aber fast alpinen Charakter, so steil ragen sie aus dem südlichen und östlichen Vorland. Bei diesem Park handelt es sich weniger um ein Naturschutzgebiet, sondern um den Versuch, eine Landschaft in ihrem ursprünglichen ruralen Charakter zu erhalten. Gleichzeitig hofft man einigen Wildarten wie Reh, Wildschwein, Dachs, Wildpony, Königsadler und Wolf zum Überleben zu verhelfen, nachdem Bär und Gämse bereits ausgerottet wurden. Ganz aufrichtig ist das Unternehmen nicht zu nennen, denn der Staat selbst hat bereits durch die Schaffung einer ganzen Kette von Stauseen auf massive Weise in das landschaftliche und ökologische Gleichgewicht eingegriffen.

Nachdem ich in den Vorjahren schon einzelne Teile des Nationalparks besucht hatte, insbesondere das touristische Caldas do Gerês mit dem dekadenten Charme seiner Fin-de-siècle Hotels und seiner reizvollen Umgebung, hatte ich mir dieses Mal vorgenommen, das gesamte Gebiet in einem großen Zick-Zack-Kurs von Osten nach Westen zu durchwandern. Als Ausgangspunkt wählte ich Montalegre, Bezirkshauptstadt des westlichen Trás-os-Montes, wegen seiner kalten Winter auch "Terra Fria" genannt. Ihr Wahrzeichen ist die mächtige Burg aus dem 13. Jahrhundert, die das Tal des Cávado beherrscht. Nach einer umständlichen Zug- und Busfahrt kamen wir hier an einem späten Sonntagnachmittag im August an. Zé sah in seiner Uniform aus dem Kolonialkrieg in Moçambique und dem Armeetornister aus, als sei er gerade dem Buschkrieg entronnen. In einer Hand hielt er einen geheimnisvollen Plastikbeutel, offensichtlich voller Proviant, und über die Schulter hing die borracha; der lederne Trinkbeutel, stramm gefüllt mit l 1/2 Liter Rotwein. Diese borracha dürfe, so bedeutete Zé mir unmissverständlich, nie leer werden, sonst sei für ihn die Wanderung beendet ("O fim desto borracha e o fim da nossa viagem").

Doch noch bestand derlei Gefahr nicht. In einer kleinen tasca wurde der inzwischen bereits geleerte Weinbeutel wieder gefüllt, und außerdem wurde uns als "Henkersmahlzeit" ein riesiges Steak serviert. Es dunkelte bereits, als wir uns solchermaßen gestärkt auf den Weg machten, und bald umfing uns finstere Nacht. Zés Besorgnis, wir könnten uns verirren, legte sich bald, denn wir brauchten lediglich der Straße zu folgen, die am Cávado entlang Richtung Westen führt. In der kühlen Nachtluft war das Wandern zudem ein Vergnügen, so dass wir bald ein beträchtliches Stück hinter uns gebracht hatten. Gegen 22 Uhr erreichten wir die Brücke, die den Cávado überquert. Ich wäre gern noch 3-4 km weitergelaufen, wo sich der Cávado zu einem kleinen Stausee weitet und ein ideales Zeltgelände bietet. Zé plädierte jedoch für sofortiges Aufschlagen des Nachtlagers. Der Standort war alles andere als geschickt gewählt. Denn es ließ sich in der Dunkelheit kein Baum ausmachen, unter dessen schützendem Laubdach wir hätten zelten können. So krochen wir am nächsten Morgen aus einem taufeuchten Zelt, wurden jedoch von einem Naturschauspiel von seltener Schönheit belohnt: Der Nebel lag noch in dicken Schwaden über dem Fluss und löste sich nur allmählich unter den sich langsam erwärmenden Sonnenstrahlen auf.

Als wir gegen 8 Uhr losmarschierten, brannte die Sonne bereits kräftig. Vor uns erstreckte sich das liebliche Cávado-Tal mit seinen sanften grünen Hängen, die eigentümlich mit dem Grau der transmontanischen Dörfer kontrastieren. Die Straße, der wir weiterhin folgten, verläuft auf halber Höhe zwischen diesen Dörfern und dem Cávado. Hin und wieder begegnete uns ein Bauer oder Hirt, den Zé nach dem rechten Weg nach Pitões das Júnias fragte, das wir als Tagesziel anvisiert hatten. Dies geschah jedoch weniger aus Gründen der Geselligkeit als aus Furcht vor eventuell zu viel gelaufenen Kilometern. Zu seiner Befriedigung wurde ihm jedes Mal mitgeteilt, dass dies in der Tat der richtige Weg sei; doch gleich sank ihm wieder der Mut, als er erfahren musste, dass es bis dahin jedoch noch muito longe - sehr weit - sei. In Wirklichkeit waren es bis Pitões nur 15 km, eine Tagesleistung, die auch vom ungeübten Wanderer ohne Mühe zu bewältigen ist. Doch dieses Argument hätte wenig verschlagen. Da musste ich schon mit einem stärkeren Lockmittel aufwarten. Wir waren nur wenige Kilometer von Covelães entfernt, in dessen Dorfkneipe mir im Vorjahr ein kühler vinho verde ausgeschenkt worden war. Diese Aussicht beflügelte Zés Schritt. So gelangten wir bald an den Ortseingang von Covelães, wo sich die Straße nach Outeiro bzw. Pitões gabelt. Und während ich noch mit dem Fotografieren beschäftigt war, eilte Zé gleich weiter zur bezeichneten tasca. Doch schon bald darauf kam er mir mit langem Gesicht entgegen: Die Erfrischung spendende Lokalität war geschlossen.

Der Weg von Covelães nach Pitões war alles andere als geeignet, Zés auf den Nullpunkt gesunkene Lust am Wandern zu fördern. Die Straße, ohne jeden Baum der prallen Sonne ausgesetzt, führte in endlosen Bögen ständig bergauf. Immer wieder schaute Zé sich hilfesuchend nach einer Mitfahrgelegenheit um. Doch auf dieser einsamen Straße (sie endet in einem nach Spanien hineinragenden Landzipfel bei dem Ort Tourém) verkehrt kaum ein Auto, geschweige denn ein Taxi. So schlug stilles Duldertum bald in offene Klage um: Schmerzten anfangs nur die Waden, so kamen bald die Fersen dazu. Ein wenig ermunternder Auftakt unserer Wanderung! Ich war heilfroh, als wir am späten Vormittag endlich an das Quelltal kamen, das linker Hand kurz vor der Abzweigung nach Pitões liegt und in dem ich im Vorjahr bereits übernachtet hatte. Hier streckten wir uns genüsslich im Schatten einer Birkengruppe aus. Schnell war Zés Müdigkeit verflogen, und er brach in emsige Geschäftigkeit aus. Vor meinen erstaunten Augen zog er aus dem ominösen Plastikbeutel drei Scheiben bacalhau, Knoblauch, Salz, Olivenöl und Essig, div. Konserven, Suppenbeutel, Obst, bagaço, dazu das nötige Geschirr und Besteck. Zusammen mit den unterwegs "geernteten" Kartoffeln zauberte er daraus ein mehrgängiges, wohlschmeckendes Mittagessen Dazu servierte er einen kühlen Schluck Weißwein aus seiner borracha, die er als erstes in ein kühles Rinnsal gehängt hatte.

Nach einem kurzen Nickerchen ging es am frühen Nachmittag mit neuer Kraft weiter. Doch bald kam neues Unglück auf Zé zu. Obwohl gleich zwei portugiesische Sprichwörter vor Abkürzungen (atalhos) warnen ("Quem se mete por atalhos, mete-se em trabalhos" und "Caminhos atalhados são caminhos dobrados") wollte Zé unbedingt die Kurve abschneiden, die die Straße nach Pitões beschreibt. Sein Versuch, Kilometer einzusparen, endete jedoch kläglich im dichten Unterholz. Schließlich stießen wir auf einen Hirten aus Pitões, der uns wieder auf die Straße führte. Er erzählte uns dabei von seinem entbehrungsreichen Leben, wie er sich in ganz Portugal habe verdingen müssen, jetzt im hohen Alter jedoch ein besseres Auskommen habe, da so viele Dorfbewohner emigriert seien.

Kurz vor Pitões ließ ich Zé mit dem Gepäck an einem schattigen Platz zurück, um alleine das Benediktinerkloster aufzusuchen Dieses liegt sehr versteckt in dem tief eingeschnittenen Tal des Ribeiro de Camposinho, so dass es trotz Ausschilderung schwer aufzuspüren ist. Nach mehreren vergeblichen Anläufen gelang es mir, den schmalen Pfad zum Kloster zu finden, der links vom Weg zum Wasserfall (cascata) abzweigt. Doch die Mühe lohnte sich. Kreuzgang und Zellen existieren zwar nur noch als Ruinen, doch die rein romanische Kirche aus dem 9. Jahrhundert ist sehr gut erhalten. Der Ort Pitões selbst hat da sehr viel weniger zu bieten. Obwohl im Führer der Gulbenkian-Stiftung mit zwei Sternen bedacht und von der Nationalpark-Verwaltung als Standort des geplanten Trachtenmuseums ausersehen, wirkt es in seiner Ärmlichkeit und Rückständigkeit wenig einladend.

So hielten wir uns nicht lange auf und bogen in den Karrenweg, der kurz vor dem Ortseingang links auf die Ostseite des Tales des Ribeiro do Beredo führt, der dann weiter südlich in den Stausee von Paradela fließt Nach einer halbe Stunde kamen wir an die schon etwas gebrechliche Holzbrücke über den Ribeiro do Camposinho. Hier, direkt unterhalb des Wasserfalls, schlugen wir unser Zelt auf. Der Wasserfall, der in einzelnen Stufen mehr als 100 m überwindet, muss in der regenreichen Zeit ein grandioses Naturschauspiel bieten. Im Spätsommer führt er jedoch wenig Wasser, was wiederum den Vorteil hat, dass man ohne Gefahr und ohne Kälteschock in dem sich natürlich gebildeten Becken am Fuße des Wasserfalls baden kann. Solche Badestellen findet man sehr häufig im Nationalpark, und das Baden in ihrem kristallklaren Wasser ist sicher einer der Höhepunkte einer Gerês-Wanderung.

Zé hielt sich als Halbschwimmer nicht lange im Wasser auf, sondern begann das Abendessen vorzubereiten, das dem Mittagsmahl an Üppigkeit in nichts nachstand. Das dazu benötigte Feuer entfachte er erst auf mein Drängen weiter vom Zelt und der Vegetation entfernt zwischen den Steinen des trockenen Flussbettes. Auf gut portugiesisch argumentierte er, dass das Feuer Gesellschaft leiste ("O lumefaz companhia"), und die companhia möchte man doch möglichst nahe bei sich haben! Dann plötzlich ein lauter Schrei: "Olha o bicho enorme!" Ich glaubte schon, ihn attackiere ein gefährliches Tier. Bei näherem Hinschauen handelte es sich um eine große Nacktschnecke, deren Leben nur durch meine massive Intervention gerettet wurde ("Mata-se?"). Dagegen brauchte ich bei einem Frosch nicht einzugreifen: er war zum Verzehr noch zu klein. Zé reagierte wie viele seiner Landsleute: die Natur als Lieferantin von Essbarem (Vögel, Schnecken, Frösche etc.) oder als Vorwand, ein Picknick zu machen - unter Hinterlassung des entsprechenden Abfalls. Die letztere Unart konnte ich Zé auf unserer Wanderung ein wenig abgewöhnen, ihm Respekt vor der lebenden Kreatur zu verschaffen oder gar die Augen für die Schönheit der Natur geöffnet zu haben, wage ich jedoch nicht zu behaupten.

Am nächsten Morgen ging es weiter Richtung Süden auf einem schmalen Hirtenweg, der dem Lauf des Beredo folgt. Dieser Weg liegt relativ hoch (600-800 m) und bietet somit immer wieder schöne Aussichten auf die gegenüberliegende Ostflanke mit ihren zinnenartigen Spitzen (z.B. Fönte Fria); er ist bequem zu begehen, verläuft zumeist im Schatten herrlicher Eichenhaine und führt nach einer anfänglichen Steigung ständig leicht bergab. So erreichten wir bereits nach zwei Stunden den Stausee von Paradela unterhalb des Ortes Outeiro. Outeiro ist ein in seinem transmontanischen Charakter unverfälschtes Dorf, sicher sehr viel schöner als Pitões. Es hat vor allem eine interessante Kirche mit der für den Gerês typischen Abtrennung des Glockenturms.

Die Kirche liegt direkt am Dorfeingang, wo auch die von Montalegre kommende Straße endet, die wir bereits bis Covelães gegangen waren. Hier mündet ebenfalls der Weg, den wir nach Paradela einschlagen mussten. Er ist so breit, dass ihn auch Personenwagen befahren können, was sich aber - graças a Deus! - bisher kaum herumgesprochen hat. Er folgt ohne nennenswerte Höhenunterschiede den Windungen des Stausee-Ufers, ist zumeist schattig und somit eine sehr angenehme, wenn auch wenig aufregende Fortsetzung des Weges von Pitões. Der einzige, der bisher den Freizeitwert dieses herrlichen Fleckchens erkannt und genutzt hat, ist ein Ingenieur aus Porto, der sich an dem mit Steineichen bestandenen Hang ein Sommerhaus im Försterstil errichtet hat. Wie ich jedoch dem Lokalblatt entnehmen konnte, ist daran gedacht zwischen Outeiro und Sirvozelo einen Campingplatz einzurichten.

Gegen Mittag erreichten wir die Brücke, die den Cávado überquert. Ewas flussaufwärts fanden wir eine ideale Stelle für die Mittagspause mit einem großen "Schwimmbad", das durch den Staudamm gebildet wird, den der Müller der etwas unterhalb der Brücke liegenden Wassermühle (azenha) unter geschickter Einbeziehung der natürlichen Felsen errichtet hat, um das Wasser zu stauen und zur Mühle abzuleiten. Zum Essen gab es das letzte Stück bacalhau, in der vorhergehenden Nacht von Zé vorsorglich gewässert Eine kurze Siesta, und weiter ging es nach Paradela, wo wir eine Stunde später eintrafen. Im Café Cruzeiro wurde bei einem kühlen Bierchen eine kleine Verschnaufpause eingelegt und Postkarten an die Lieben daheim versandt. Dann ging es weiter über die Krone der gewaltigen Stauseemauer zum 4 km entfernten Sirvozelo, vorbei an den ehemaligen Unterkünften der Stausee-Ingenieure (inzwischen in eine Pousadinha umgebaut für die Gerês-Wanderer, die nicht so gerne im Zelt übernachten).

Sirvozelo ist ein malerisches Dorf, noch ganz ursprünglich, wunderschön gelegen zwischen Steineichen und riesigen Granitmonolithen, die teilweise an Großplastiken erinnern. In Sirvozelo waren wir mit einem Lissaboner Freund aus dem Informationsministerium, Sr Domingos Dias Martins, verabredet, der aus dieser Gegend stammt und jedes Jahr seine Ferien hier verbringt. Er hat sich in Lissabon einen Namen gemacht mit seinen stimmungsvollen Fotos aus dem Gerês, von denen einige die Publikationen seines Ministeriums zieren. Domingos hatte uns eingeladen, einige Tage bei ihm zu verbringen, bevor wir die Überquerung der Serra antraten. Wir mussten ohnehin bis Sonntag warten, bis unser Führer, ein Hirte aus Sirvozelo, Zeit für uns hatte. Zudem war das Wetter wechselhaft geworden, mit plötzlichen Wolken- und Nebelbildungen.

Zé schien die längere Unterbrechung nur allzu recht zu sein, hatte er hier doch alles, was das Leben lebenswert macht: companhia, eine gesicherte pinga (Schluck Wein) und warme Mahlzeiten. Zudem entfiel das lästige Rucksackschleppen. So fand er schnell zu seinem drolligen Naturell zurück, freundete sich mit jedermann im Dorf an, wo man ihn wegen seiner Militärkluft liebevoll recruta, "Rekrut", nannte. Einen weiteren Spitznamen handelte er sich ein, weil er auch auf unseren kleinen Tagesausflügen das Abkürzen nicht lassen konnte: "O Rei dos Atalhos" - der König der Abkürzungen. Auf diesen Tagesausflügen führte uns Domingos zu verschiedenen landschaftlich reizvollen Stellen der Umgebung. So zum Pala de Caúnho, einem mächtigen Granitstock oberhalb des Ortes Sela, der einen derart riesigen Überhang (pala = Mützenschirm) bildet, daß darunter ein geräumiger Stall eingerichtet wurde, und zur Brücke über den Sela Cavalos, einen Zufluss des Cávado. Diese liegt am Passweg zwischen Sela und Lapela kurz vor dem napoleonischen Wachhäuschen (casa do soldado) und ist mit seinen Badestellen und Wassermühlen sicher einer der schönsten Winkel des Gerês.

Da Domingos eine weit verzweigte Verwandtschaft in den umliegenden Ortschaften besitzt, mussten wir sehr häufig einkehren. So erhielt ich Gelegenheit, die für diese Gegend so typischen Häuser des Trás-os-Montes auch von innen zu sehen. Äußerlich wirken sie zwar mit ihren groben Granitquadern, die z.T. unbehauen und ohne Verwendung von Zement oder Mörtel aufeinander gesetzt sind, eher wie Zeugen aus der Steinzeit, innen sind sie jedoch sehr geräumig und wirken fast gemütlich, wenn man sich nicht daran stört, dass sich direkt unter den Wohnräumen die Stallungen befinden und man nur durch einige Holzplanken von Ochs und Esel getrennt ist. Wände und Mobiliar sind dunkel gebeizt, weil die Feuerstellen offen und ohne direkten Rauchabzug sind. Herzstück ist der große Backofen, in dem die Bauern ihre eigene broa backen, ein Brot aus einem Roggen-Mais-Gemisch. Dies ist eine sehr zeitraubende und fast sakrale Handlung. Einen halben Tag lang wird der Ofen mit Holz angeheizt. Dann fegt die Bäuerin die letzte Glut mit einem selbst gefertigten Besen aus frischem, angefeuchtetem Heidekraut heraus und schiebt die großen kreisrunden Teiglaiber in den Ofen. Die Öffnung wird mit einer Metallplatte verhängt und die Ritzen mit frischem Kuhmist hermetisch verschmiert. Ein Kreuzzeichen, ein Stoßgebet zum Schluss und vier Stunden später kommen die Brote mit ihrer herrlich dunkelbraunen Kruste heraus.

Auf einem unserer Tagesausflüge besuchten wir in der Ortschaft Lapela, ca 8 km südlich von Sirvozelo, Sr. Manuel Rodrigues, ebenfalls ein Verwandter von Domingos. Dieser zeigte uns voller Stolz einen Bericht, den er einige Tage zuvor von der Portugiesischen Akademie der Geschichte erhalten hatte. Demnach kann als gesichert angesehen werden, dass João Rodrigues Cabrilho, der in spanischen Diensten Kalifornien entdeckte (1542), sein Vorfahre ist und das von ihm bewohnte Haus einst Cabrilho gehörte. In der Tat scheinen die ältesten Teile des Hauses dem 15. Jahrhundert zu stammen. Auch die Bezeichnung "Casa do galego" (Haus des Galiziers) weist darauf hin, dass sein ehemaliger Besitzer in Spanien tätig war. Eine lange mündliche Tradition erhärtet die These und nicht zuletzt ein seit vielen Generationen im Familienbesitz befindliches kastilianischen Kruzifix, das von den Kunstexperten auf das frühe 16. Jahrhundert datiert wird. Inzwischen ist das Haus nationales Monument: es wurde eine Marmorplatte enthüllt, die an den berühmten Sohn Portugals erinnert. Der Bischof von Braga hielt eine feierliche Messe und jedes Jahr findet ein großes Volksfest statt, bei der "Miss Cabrilho", die schönste Vertreterin der portugiesischen Gemeinde in Kalifornien, nicht fehlen darf.

Die schönen Tage von Sirvozelo waren wie im Flug vergangen, und nun hieß es wieder den Rucksack schnüren. Domingos, Viehhirte und - wie konnte es anders sein! - noch ein Verwandter von Domingos Martins, hatte sich bereit erklärt, uns an seinem freien Sonntag quer durch die Serra zu dem Bergwerk von Carris (Minas de Carris) zu führen, das am Nordrand der Serra do Gerês, nahe der spanischen Grenze, liegt. Anfangs ging es auf einem breiten Viehweg in nördlicher Richtung am Westufer des Stausees von Paradela entlang. Doch je mehr wir an Höhe gewannen, desto mehr verlor sich der Weg zwischen den Felsen und dem Gestrüpp. Für eine solche Gerês-Überquerung braucht man also auf jeden Fall einen Führer oder die entsprechenden Messtischblätter (zu beziehen durch das Geographische Institut an der Estrela-Kirche in Lissabon). Auf der Höhe empfing uns ein schneidender Wind, so dass wir trotz strahlender Sonne kaum ins Schwitzen gerieten. Die Freude an dem schönen Blick, den man hier oben genießen kann, wurde jedoch dadurch gemindert, dass weite Flächen kahl und verbrannt sind. Die Hirten legen regelmäßig Brände, um damit angeblich den Graswuchs zu fördern. Dass damit der Bodenerosion Vorschub geleistet wird und das Gebirge immer mehr verkarstet, wäre Domingos sicher schwer zu erläutern gewesen, und in anbetracht der Waffen, die er bei sich trug (Dolch, Beil und Pistole), verspürte ich auch wenig Appetit auf Heldentum. Schließlich steht man selbst höheren Orts diesem Problem machtlos gegenüber, so dass jeden Sommer riesige Waldbestände ein Opfer der Flammen werden.

Domingos nutzte die Führung dazu, seine versprengte Herde wieder zusammenzutreiben und auf eine höher gelegene Alm zu führen. So trotteten wir über eine Stunde hinter einer 20köpfigen Rinderherde, die von Domingos immer wieder durch Rufe oder zur Not mit Steinwürfen angetrieben wurde. Unserem recruta, durch den zügigen Aufstieg bereits leicht enerviert, war das Zuckeltempo der Herde sehr lieb. Doch leider hatte die Münze eine unangenehme Kehrseite: Durch den Rinderauftrieb waren wir auf einen leicht östlichen Kurs geraten und landeten statt auf dem direkt zum Carris (l504m) führenden Kammweg, in einem Tal auf dessen Ostseite, unweit der beiden höchsten Erhebungen des Gerês (Altar de Cabrões, 1538m und Nevosa, 1545m). In diesem Tal befindet sich auch der Ausgang eines Stollens, von dem aus uns ein atem(be)raubender Steilweg zu dem ca. 200m höher liegenden Pulvermagazin führte.

Als wir mit weichen Knien endlich oben angekommen waren, war es fast 13 Uhr. So nahmen wir dankend an, als die drei Arbeiter der Sonntagsschicht uns anboten, in der Kantine des Bergwerks unser Mittagessen einzunehmen. Ein Picknick im Freien wäre bei dem starken Wind sowieso kaum möglich gewesen. Doch für Zé war es noch immer noch nicht das Ende aller Leiden. Während des Essens bemerkte ich unter meinem Stuhl ein merkwürdig riechendes Rinnsal: Zés borracha war umgekippt und der gesamte Inhalt hatte sich auf dem Boden ergossen. Ich habe selten so ein betroffenes und von Leid gezeichnetes Gesicht gesehen. Wieder drohte ein vorzeitiger Abbruch der Wanderung und das Gespenst des Taxis tauchte wieder auf. Doch die Arbeiter mussten Zé enttäuschen: auf dem gerölligen Weg zu ihnen herauf wagt sich kein Personenwagen. Die Wanderung musste also weitergehen und die borracha irgendwie gefüllt werden. Das einzige alkoholische Getränk, das die Kantine zu bieten hatte, war dunkles Bier. Dazu spendierte der mitleidige Domingos den Rest seines Rotweines. Das Gemisch hatte eine wunderschöne Farbe, war aber kaum genießbar. Doch was half es?! Hauptsache, die borracha war voll und die Wanderung konnte weitergehen.

Vorher holte ich von den Arbeitern noch einige Informationen über das Bergwerk ein. Es wurde während des 2. Weltkrieges von den Deutschen betrieben, um das begehrte Wolfram abzubauen. Dieses wurde anschließend in kleinen Flugzeugen von einem als Fußballplatz getarnten Terrain ausgeflogen. Bei Start und Landung wurden die Fußballtore einfach umgeklappt. Lange Zeit lagen die minas brach. Jetzt werden sie unter Leitung eines schwedischen Ingenieurs wieder betrieben. Neue Unterkünfte wurden errichtet, während die sehr viel pompöseren deutschen Häuser nur noch als Ruinen existieren, zwischen denen friedlich Barroso-Rinder grasen.

Am frühen Nachmittag trennten wir uns von unserem Führer und schlugen den Weg nach Portela ein. Dieser führt ständig bergab, am Lauf des Rio Homem entlang und endet an der schmalen Teerstraße, die Caldas do Gerês mit der Grenzstation Portela do Homem verbindet, unweit von Albergaria. Hier begegneten wir auch den einzigen Wanderern, einer Gruppe wild aussehender junger Männer mit hochgepackten Rucksäcken, kahl geschorenem Kopf und in Badehosen. In Portela gab es sogar ein paar Autofahrer, für die dieser Grenzübergang ein beliebtes Sonntagsausflugsziel ist. Er dient dem kleinen Grenzverkehr und ist deshalb auch nur tagsüber geöffnet. Die Naturschützer sähen ihn jedoch am liebsten ganz geschlossen. Inzwischen hat sich aber die mächtigere Lobby der Emigranten durchgesetzt und die Grenzstation ist sogar noch ausgebaut worden, wobei man mit den Meilensteinen des dort vorbeilaufenden Römerweges (geira) wenig zimperlich umgesprungen ist.

Unmittelbar an der Grenzstelle beginnt auch der Weg in die Serra Amarela. Er ist mit einer Kette verhängt, um den Privatverkehr fernzuhalten. Die Parkverwaltung fährt gelegentlich mit einem Jeep oder Kleinbus hinauf, um weniger wanderfreudigen Touristen die wirklich großartige Aussicht von diesem Höhenweg zu bieten. Doch noch war es für uns nicht soweit; vorerst hieß es ein Nachtlager finden, da es bereits zu dunkeln anfing. Am nächsten Morgen kamen wir früh los, was sich in anbetracht des Aufstieges nur als vorteilhaft erwies. Dieser ist zwar nicht besonders steil, zieht sich aber sehr lang hin. Anfangs verläuft der Weg parallel zur spanischen Grenze, der "raia", wie sie hier genannt wird. Sie wird durch eine niedrige Lesesteinmauer gebildet, die teilweise bis auf wenige Meter an den Weg heranführt. Jedoch keine Spur von Überwachung. Dies war zur Blüte des Schmuggels einmal anders. An diese bewegten Zeiten erinnert heute lediglich ein Wachhäuschen, das an einer erhöhten Stelle den Lauf des Mäuerchens unterbricht. Zur gegenüberliegenden Seite, d.h. in Richtung Süden, ergeben sich immer wieder wunderschöne Ausblicke auf Albergaria mit dem alten Römerweg, den Pé de Cabril (1234m) mit seinem eigentümlich gezackten Gipfel, den Stausee von Vilarinho das Furnas. Bei dem Bau dieses Stausees vor fast 20 Jahren ist das gesamte Dorf gleichen Namens den Fluten geopfert worden, worauf die Einwohnerschaft, noch eine der wenigen mit kommunitären Lebens- und Arbeitsformen, brutal in alle Winde verstreut wurde. Nur Jörge Dias großartiges Buch "Vilarinho da Furna, Uma Aldeia Comunitária" (von der Imprensa Nacional 1981 neu aufgelegt) und zwei Filme von Fernande Curado de Matos und António Campos halten die Erinnerung daran wach.

Von den Wildponies, die ich im letzten Jahr an dieser Stelle gesehen hatte, waren dieses Mal nur Hufspuren und Kot zu sehen, vom Wolf ältere Losung. Das einzige was uns an Wildleben begegnete, war eine kleine Stülpnasenotter, übrigens die einzige Giftschlangenart im Gerês, die ich nur mit knapper Not vor Zés Mordlust retten konnte. Nach einem gut einstündigen Marsch endete der Weg an einem Steinwall, der einst die Weideflächen von Vilarinho begrenzte. Von hier ab kann man sich nur noch nach dem Messtischblatt orientieren, da ein Weg nicht ausmachbar ist. Man hält sich am einfachsten in nordwestlicher Richtung, über die nächste Anhöhe hinweg und gelangt ohne Mühe an das Cabril-Tal. Zé - jedweder Anstrengung abhold - bestand jedoch darauf, die Anhöhe zu umwandern, was in dichtes Gestrüpp (vor allem tojo, Stechginster!) und entsprechend unangenehme Situationen führte. Mit einiger Anstrengung gelang es uns, dem Maquis wieder zu entfliehen und auf den erlösenden Pfad zu stoßen, der in großem Bogen um das Quelltal des Rio Cabril auf eine Fernsehstation zuführt. Diese liegt auf dem höchsten Gipfel der Serra Amarela (Lourica, 1355m).

Von hier ab konnte nunmehr nichts schief gehen. In weiten Schleifen führt ein breiter, gestampfter Weg ins Lima-Tal. Jenseits des Lima bieten sich dem Blick des Wanderers in ihrer ganzen Weite die Serra do Soajo und die Serra da Peneda, die den nördlichen Teil des Nationalparks bilden. Ich musste wohl erraten haben, was in Zés Kopf beim Anblick der beiden Gebirgsmassive vorging. Denn als ich vorschlug, dieses Gebiet für ein anderes Mal zu lassen, d.h. nicht bis nach Castro Laboreiro zu wandern, sondern statt dessen noch ein paar Tage am Limaufer zu Zelten, hellte sich seine Miene sofort auf und er stimmte meinem Vorschlag freudig zu. In der Gewissheit, sich dem Ende seiner via dolorosa zu nähern, schritt Zé kräftig aus. So erreichten wir bereits am frühen Nachmittag die Ortschaft Lindoso.

In Lindoso empfiehlt es sich, den Hauptweg auf Höhe des Ortes zugunsten des durch Granitsteine gebildeten Karrenweges zu verlassen. Man läuft dann direkt auf eine Dorfanlage zu, wie sie in der Welt wohl einmalig sein dürfte: auf einem Hügel die mittelalterliche Burg, spielzeughaft klein, zu ihren Füßen eine Ansammlung von mehr als 30 espigueiros, den für den Minho typischen Kornspeichern, und rundherum das Dorf mit seinen überwiegend transmontanischen Bauernhäusern aus wuchtigen Granitsteinen. Beim Krämer, wo wir noch einmal unseren Proviant auffrischten, erhielt Zés Fröhlichkeit einen erheblichen Dämpfer, als der Ladeninhaber in aller Unschuld fragte, was uns denn bewege, so viel Mühsal ohne Not auf uns zu nehmen und ob wir denn kein Auto hätten. Zé schnappte erst einmal nach Luft, dann grübelte er einen Moment und schließlich fiel ihm nichts Besseres ein, als daß er dem Sr. Peter companhia leisten wollte. Solchermaßen seelisch angeschlagen, war Zé ein leichtes Opfer für die große Schlusskatastrophe. Auf der Suche nach einem günstigen Zeltplatz verfilzten wir uns hoffnungslos im Dickicht am Zusammenfluss von Rio Cabril und Rio Lima, weit unterhalb der Landstraße. Stechginster und Brombeersträucher hatten uns bereits kräftig zerschunden, doch Zé war wie üblich nicht dazu zu bewegen, durch einen Aufstieg dem Dickicht zu entrinnen. Wie ein störrischer Esel beharrte er darauf, sich weiter am Cabril entlang zu orientieren, immer tiefer hinein in den Wald von Cabril, "eine Art Urwald, dessen Besuch sich lohnt, den man aber nur in Begleitung eines Führers aufsuchen sollte" (Polyglott Reiseführer, 1974, S. 36).

Mir blieb nichts anderes übrig, als Zé im Schatten eines Baumes zurückzulassen, um auf eigene Faust einen Weg zur Landstraße ausfindig zu machen. Von dieser zweigt dann kurz nach Überquerung der Brücke über den Cabril (Ponte da Madalena) linker Hand ein Weg zum Ufer des Lima. Hier, wenige Kilometer vor der spanischen Grenze, bietet sich ein ideales Zeltgelände. Unter einem Eichenhain mit Sandstrand, mit einer kleinen Quelle in der Nähe eines verlassenen Gehöftes konnte sich Zé endlich von den Strapazen der Wanderung erholen. Zwar War die borracha nach einem Tag leer, doch tags darauf ging es ja wieder zurück. Und auf der Rückfahrt über Lindoso, Braga und Porto ergab sich reichlich Gelegenheit, die borracha wieder zu füllen ... und zu leeren.

Ob Zé sich selbst noch einmal die Frage gestellt hat, was ihn wohl dazu bewegt haben mag, mich über 150 km durch eine Gegend begleitet zu haben, wo Portugal zwar noch am schönsten und ursprünglichsten ist, wo aber all das rar ist, was einem Portugiesen das Leben lebenswert macht? Für mich rastlosen, bewegungshungrigen Zentraleuropäer waren Zés Bemühungen um gutes Essen und Trinken und die companhia jedenfalls eine Bereicherung meines sonst eher sportlich geratenen Unternehmens, eine Bereicherung, für die ich zu danken habe - muito obrigado, Zé!

Estoril, im Sommer 1979


B. Matar saudades do Gerês - gut 17 Jahre später

Die letzten Herbstferien waren ein willkommener Anlass, den geliebten Norden Portugals mal wieder zu besuchen und auf den alten Spuren im Gerês zu wandern. Die beiden Wochen vorher hatte ich in Cascais verbracht, wohin ich eine Austauschgruppe von Schülern der Gymnasien Hochrad und Othmarschen geführt hatte. Bei der Gelegenheit traf ich meinen alten Weggefährten Zé Lopes wieder, der sich inzwischen einer schweren Hüftoperation unterziehen musste, aber trotzdem nicht aufhört, vom Gerês zu träumen. Auch mein Freund, der Fotograf Domingos Dias Martins, musste operiert werden. Seine Lust am Rauchen hat ihm mehrere Bypässe eingebracht... und den totalen Verzicht auf Zigaretten. Als Pensionär hat er nun viel Zeit, die Sehnsucht nach dem heimatlichen Gerês zu stillen, im portugiesischen wörtlich "töten" (matar saudades do Gerês), und ihn immer wieder zu fotografieren. Warum er denn nicht mal eine Ausstellung seiner sehenswerten Fotos veranstaltet? Nun, er hatte ein Angebot vom CCB (Centro Cultural de Belem). Doch der alte Fuchs aus den Bergen traut dem Frieden nicht: Er kann nicht dafür garantieren, dass man nicht Abzüge von seinen Bildern für anderweitige Zwecke anfertigt. Und auch das Angebot der Fundação Gulbenkian, seinen Nachlass aufzukaufen, findet nicht seine Gnade. Aber eine vom amigo Peter in Hamburg betreute Ausstellung, darüber ließe sich reden!

In Porto erwartete mich ideales Wanderwetter: kühl, aber dafür sonnig und trocken. Ich ließ den Großteil meines Reisegepäcks im "Grande Hotel do Porto" zurück und stopfte nur das absolut Notwendige in meinen Rucksack. Ein Zelt war dieses Mal nicht dabei. Zum einen waren die Nachttemperaturen in den höheren Lagen schon empfindlich kalt und zum anderen ist das wilde Zelten in Portugal inzwischen auch untersagt. Außerdem bin ich nun in den Jahren, wo man es gerne nachts ein wenig bequemer hat. Und wie sich auf der Wanderung bald zeigen sollte, brauchte ich mir keine Sorgen zu machen, wo ich mein müdes Haupt würde lagern können. Der Transport war indessen noch immer derselbe: ab Porto und seinem mit herrlichen Azulejo-Bildern gefliesten Bahnhof S. Bento ging es mit der Bahn nach Braga und von dort ab mit dem Bus nach Montalegre. Und auch der Fahrpreis ist noch immer spottbillig: 330 Escudos für die Bahnfahrt und 500 Escudos für die Busfahrt.

Montalegre, wo ich am Nachmittag des 7. Oktober ankam, hat sichtlich Fortschritte gemacht. Eine freundliche Dame im Posto de Turismo wies mir ein sehr ordentliches Hotel (Residencial Pedreira) nach und veranlasste, daß jemand mir den Burgfried (torre de menagem) öffnete, der den Ort so eindrucksvoll überragt. Ich war natürlich der einzige Besucher, und obwohl man von dort oben einen wunderbaren Ausblick hat und auch die Ausstellung ländlicher Kultur sehr sehenswert ist, hielt ich mich nicht lange auf - so unangenehm kalt pfiff der Wind durch die Ritzen des mittelalterlichen Gemäuers. Unterhalb der Burg haben sich ein paar schöne kleine Geschäfte angesiedelt, die regionales Kunsthandwerk anbieten. Und auf dem Rathausplatz ist inzwischen ein beeindruckendes Denkmal für den portugiesischen Emigranten errichtet worden. Es stellt João Rodrigues Cabrilho dar, den Entdecker des Seewegs nach Kalifornien, der, wie ich vor gut 17 Jahren als Neuigkeit erfuhr, aus Lapela bei Sirvozelo stammt.

Angenehm überrascht war ich auch von dem Abendessen im Residencial Pedreira, wobei der offene Hauswein (rot) die absolute Krönung darstellte. Schöner war nur noch der Sonnenuntergang. Von meinem Fenster aus, das zum Westen führt, verfärbte sich der mit einem dichten Vlies von Schäfchenwolken überzogene Himmel in allen Schattierungen von gelb über orange, rot, violett bis schwarz. Und darunter der Gerês, dessen Ostmassiv mit seinen zinnenartigen Bergspitzen sich wie in Breitwand vor mir ausdehnte, als wenn er mir zurufen wollte: "Komm, Junge, zieh Deine Stiefel an und auf geht's!" Da ich dieses Mal beim Ausschreiten weder durch Zé Lopes noch durch einen besonders schweren Rucksack gebremst werden würde, hatte ich mir vorgenommen, die Strecke von damals in drei Tagesetappen zurückzulegen: l .Tag bis Pitões das Júnias, 2. Tag bis Sirvozelo, 3. Tag bis Lindoso.

Am nächsten Morgen ging es früh los. Doch die anfängliche Freude am Wandern wurde auf den ersten Kilometern von Lastwagen getrübt, die, schwer mit Bauschutt für das Gelände neben dem Fußballplatz beladen, ständig an mir vorbeifuhren. Später beeinträchtigten weitflächig abgebrannte Busch- und Baumbestände das harmonische Bild des schönen Cávado-Tales. Da konnte es mich wenig trösten, dass die Straße sich in einem besseren Zustand als damals befand und inzwischen auch alle Brücken erneuert wurden. Doch - Gott sei Dank! - hält sich der Auto verkehr in bescheidenen Grenzen. Dafür sind am Straßenrand viele neue Häuser entstanden, die z.T. recht aufwendig gebaut sind, vermutlich von Emigranten (casas do emigrante). Kurz vor Covelães, wo Zé damals auf seine pinga verzichten muss, baute ich eine kleine Variante ein, um auch einmal rei dos atalhos zu sein. An der neuen Brücke über den Rio Mau (woher er wohl diesen bösen Namen hat?), bog ich rechts von der Straße ab, um den Fluss bergauf zu begleiten und nach ungefähr einem Kilometer links über den Steilhang wieder Anschluss an die Straße nach Pitões zu finden. Dies erwies sich bald als ziemlich schweißtreibende Kletterpartie und nur mit Mühe kam ich in der Nähe der Fonte de Bouzende wieder auf eine angenehmere Wegstrecke.

Die Straße nach Tourém, bzw. Pitões hat in der Zwischenzeit nichts von ihrer Eintönigkeit verloren. Und auch der immer wieder am Straßenrand ausgekippte Schutt (entulho) und Müll (lixo) bedeutete keinerlei angenehme Abwechslung für das müde Auge des Wanderers. Dafür habe ich Pitões das Júnias, das ich früher immer nur sehr flüchtig und stets mit einem kleinen Schauer wegen seiner rückständigen Ärmlichkeit gestreift habe, dieses Mal sehr intensiv erlebt. Ich war schon am frühen Nachmittag angekommen und bezog Quartier in der von meinem Freund Hans Blume empfohlenen Casa do Preto (wo ich mal wieder der einzige Gast war!). So konnte ich in Muße auf einen Fotostreifzug gehen und die urtümliche, fast wilde Schönheit des Ortes und seiner Umgebung erschließen. Leider sind viele der strohgedeckten, sich an den Hang schmiegenden Bauernhäuser und -katen mit ihren groben Granitwänden in schlechtem Zustand und häufig mit artfremdem Material (z.B. Blech) notdürftig repariert. Hier sollten mal europäische Mittel sprudeln, statt immer nur für den Straßenbau! Abends saß ich dann mit der großen Familie meines Gastwirts, António João Gomes Fernandes, genannt 0 Preto, beim Abendessen, und er erzählte mir von seinem Betrieb. Nach wie vor geht er der Landwirtschaft nach, aber das Restaurant ist, in dem immer häufiger ganze Busladungen von Gästen einkehren, zur Haupteinnahmequelle geworden. Eine seiner beiden Töchter hilft ihm dabei, während die jüngere. Albertina, in Porto studiert.

Als ich am nächsten Morgen mich auf den Weg machte, war es noch empfindlich kalt (nachts hatte es sogar schon Bodenfrost gegeben). Mein Ziel war Sirvozelo, vorbei am Ribeiro de Camposinho, in dessen Nähe Zé und ich unser zweites Nachtlager aufgeschlagen hatten. Der Weg durch die Eichenhaine war schön wie eh und je. Erst in Outeiro wurde ich aus meinen nostalgischen Träumen gerissen. Dieses Dorf hat sein ursprüngliches Gesicht fast völlig verloren. Am Ortsrand entsteht eine große Pousada, übrigens von einem Deutschen gebaut. Die von Montalegre kommende Straße, die früher am Ortseingang abrupt endete, ist jetzt weiter ausgebaut und geht bis nach Paradela. Damit ist auch der Schotterweg verschwunden, der idyllisch unter Kastanien und Eichen am Stausee entlang nach Paradela führte. Die neue Straße folgt in sehr viel weiteren Windungen den Ausbuchtungen des Stausees und wird dadurch für den Wanderer zu einem öden, nicht enden wollenden Golgatha. Diese Straße, die - wie mir später Sr. Afonso in Sirvozelo erzählte - gegen den Widerstand der Parkverwaltung mit Druck von Brüssel gebaut wurde, ist nicht nur eine Verschandelung der Landschaft, sie geht auch völlig am Verkehrsaufkommen vorbei: in den zwei Stunden, die ich für ihre Bewältigung brauchte, begegneten mir ganze 3 (!) Autos. Einigermaßen fußlahm kam ich gegen Mittag in Paradela an und ließ mich im D. Dinis nieder, einer neu entstandenen Hospedaria mit Restaurant. Die Gästezimmer werden erst in diesem Frühjahr bezugsfertig, aber das Restaurant war bereits geöffnet. Und D. Maria Olinda kocht sehr gut!

Bis nach Sirvozelo ist es dann nur noch ein Katzensprung. Hier gab es ein bewegendes Wiedersehen mit meinen alten Freunden, Sr. Afonso und seiner Frau D. Soledade. Sr. Afonso ist für die archäologische Abteilung der Parkverwaltung tätig und zeigte mir stolz Fotos der Steinzeitgräber, die er bei Castro Laboreiro entdeckt hat. Sirvozelo hat sich in all den Jahren keinen Deut verändert. Man hat lediglich im Rahmen des Programms LEADER (Recuperação de Moradias Rurais) zwei der kleineren Bauernhäuser für den Turismo de Habitação renoviert und hergerichtet. Eines der beiden Häuser hatte ich für die Nacht angemietet, in dem anderen verbrachte gerade Sr. Albino Oliveira mit seiner Familie einen kurzen Urlaub. Er ist im Büro für Auslandsangelegenheiten der Universität in Porto tätig und hatte meine Rede gelesen, die ich im Juni bei der Preisverleihung in Porto gehalten hatte. Como o mundo é pequeno!

Im Hause der Afonsos gab es beim Abendessen viel zu erzählen. Sr. Afonso hat sich vor 20 Jahren bei einem Sturz ein Wirbelsäulenleiden zugezogen, das progressiv ist und ihn daran hindert zu schreiben. Nun erzählte er mir voll Bitterkeit, mit wie viel Schwierigkeiten die Parkverwaltung bei der Verwirklichung der ursprünglichen Konzeption von Portugals einzigem Nationalpark nach wie vor zu kämpfen hat. Da sind einerseits die (Straßen)Bauwut der Europäischen Gemeinschaft, andererseits aber auch Fehler der Verwaltung selbst, der es nicht gelungen ist, den Bewohnern des Parks ihre Ideen und Pläne näher zu bringen. Die Gerêsbewohner, überwiegend Bauern und Hirten, fühlen sich übergangen und widersetzen sich durch Obstruktion oder gar Zerstörung (Vernichtung seltener Pflanzen- und Tierarten, Waldbrände). Dann besprachen wir ausführlich die Route des nächsten Tages, denn der Viehhirte Domingos, der uns vor 17 Jahren auf verschlungenen Wegen zu den Minas de Carris geführt hatte, stand nicht mehr zur Verfügung. Auch hat der Viehauftrieb in den letzten Jahren stark abgenommen, so dass die alten Trampelpfade inzwischen zugewachsen sind.

So war ich am nächsten Morgen der einsamste Mensch auf der Welt. Zu meiner Orientierung hatte ich lediglich das Messtischblatt des Lissabonner Geographischen Instituts und die Wegbeschreibung von Sr. Afonso. Und die mariolas! Das sind Steinmännchen, die durch das Auflegen eines Lesesteines von vorbeiziehenden Hirten allmählich entstehen. Die meisten sind lange nicht erneuert worden und daher häufig als solche nicht mehr zu erkennen. Umso erfreuter war ich, auf der Höhe des Massivs einen alten Bekannten wiederzutreffen, ein besonders schönes und großes Exemplar, fast einen Meter hoch, das ich bei einer früheren Wanderung bereits fotografiert hatte und das die Stürme der Zeit unbeschadet überstanden hat. Trotz dieser Hilfen kam ich im letzten Teil der Strecke doch etwas in Schwierigkeiten und musste den einen oder anderen Irrweg zurückgehen. Als ich gegen 14 Uhr auf der Höhe der Minas de Carris glücklich aber erschöpft ankam, bot sich mir ein desolates Bild. Der Bergwerksbetrieb, der ja zwischenzeitlich von einer schwedischen Firma wieder aufgenommen worden war, musste schon vor einiger Zeit wieder eingestellt worden sein. Denn die neugebauten Unterkünfte zeigten denselben Grad der Zerstörung wie die von Deutschen im Zweiten Weltkrieg errichteten Gebäude.

Dafür belohnte mich ein umso schönerer Blick auf die mich umgebende Bergwelt mit den höchsten Erhebungen des Gerês, dem Altar de Cabrões und der Nevosa, beide zum Greifen nahe. Im Gegensatz zum Sommer mit seinen eher diesigen Aussichten, präsentierte sich das Gebirgsmassiv in der trockenen Herbstluft gestochen klar. Während ich den Blick genoss, ruhte ich mich vom strapaziösen Aufstieg aus und verzehrte die von D. Soledade liebevoll vorbereiteten sandes mit einem wunderbaren Schinken aus eigener Schlachtung. Als ich mich eine Stunde später wieder aufraffen konnte, stand mein Entschluss fest: Lindoso war als Tagesziel nicht mehr zu scharfen. Da es schon gegen 20 Uhr dunkel wurde, hätte die Durchquerung der Serra Amarela wegen einiger kniffligen Stellen zum Abenteuer werden können. Außerdem wäre es sicher betrüblich zu sehen gewesen, dass an der Stelle, wo Zé Lopes und ich zum letzten Mal unser Zelt am Ufer des Lima aufschlugen, sich jetzt ein Stausee breit macht.

So bog ich dort, wo die Auffahrt zu den Minas auf die Straße trifft, nach links in Richtung Süden und Caldas do Gerês. Rechts liegen ließ ich somit den Grenzübergang von Portela do Homem, obwohl es mich schon interessiert hätte, was aus den römischen Meilensteinen der geira, die man beim Ausbau der Grenzstation ziemlich ruppig behandelt hatte, geworden ist. Fica para outra vez!

Löblich fand ich, dass man jetzt auch die Auffahrt zu den Minas de Carris mit einer Kette verhängt hat. Ansonsten würden die Besitzer von Geländewagen, die in Portugal die aufreizende Bezeichnung todo-o-terreno tragen, auch diesen sehr holprigen Weg "erobern" wollen, um in die Einsamkeit der Bergwelt vorzudringen. Die Strecke nach Caldas ist nicht sehr viel kürzer als nach Lindoso (fast 15 km), doch da ich stets nur der Straße zu folgen brauchte, bestand keine Gefahr des Verlaufens. Andererseits war das Wandern auf der Teerstraße alles andere als aufregend und sicher für die Gelenke auch kein Labsal. So war ich schon das eine oder andere Mal versucht, einem der vorbeifahrenden Autos den Mitfahrerdaumen entgegenzustrecken. Doch das wäre ein Verstoß gegen den Ehrenkodex des Wanderns gewesen!

Belohnt für meine Ausdauer wurde ich durch den Anblick von garranos, den halbwilden Pferden des Gerês. Ab Albergaria traf ich immer wieder auf einzelne Gruppen, und sie waren längst nicht so scheu, wie ich sie in Erinnerung hatte. Sie ließen mich bis auf wenige Meter an sich herankommen, so dass ich sie in Muße fotografieren konnte. Als ich gegen 19 Uhr in Caldas ankam, war der Posto de Turismo bereits geschlossen. Aber Caldas hat als Kurort ein breites Angebot an Hotels und Pensionen, das sich seit meinem letzten Aufenthalt noch einmal kräftig vergrößert hat. Leider ist das schöne alte "Hotel do Parque" geschlossen und befindet sich in einem fortgeschrittenen Zustand des Verfalls. Offensichtlich wartet schon die Abrissbirne. Doch das gegenüberliegende "Hotel Universal" entpuppte sich als angenehme Überraschung. Von außen her eher schlicht und einfallslos wirkend, verbreitet die Innenarchitektur viel Atmosphäre. Alle Zimmer des 4stöckigen Hotels liegen an einem Rundlauf, der von schmiede-eisernen Trägern der Jahrhundertwende getragen wird und sich zu einem lichtdurchfluteten Innenhof mit südländischer Vegetation öffnet. So glaubt man sich eher am Amazonas oder Mississippi denn in Portugals Norden. Doch spätestens beim Abendessen wird man wieder aus allen südlichen Träumen gerissen. Die Gerichte, offensichtlich auf die strapazierte Leber, Galle, Magen o.a. der Kurgäste abgestimmt, waren eher fad und verrieten eine gewisse Nähe allenfalls zur englischen Küche.

Doch mich konnte dies nicht weiter anfechten. Am nächsten Morgen würde ich den Bus besteigen, der mich zurück nach Porto und der für ihre Deftigkeit bekannten Küche bringen sollte. Hinter mir lagen drei erlebnisreiche Tage, etwas zu wenig, um meine Sehnsucht nach dem Gerês völlig zu "töten". Aber es waren drei Tage voller Licht und Sonnenschein, wenn auch nicht alles Gold war, was am Wegesrande glänzte. Als ich tags darauf in Porto aufwachte, begrüßte mich ein grauer Himmel. Es war der erste Tag einer längeren Regenperiode, die Portugal den feuchtesten Winter seit 20 Jahren bescheren sollte.







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Ein Bericht aus
Vor-Portugal-Post-Zeiten...









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Zé Lopes




























































































Domingos Dias Martins



































Fröhliche Wandergruppe:
c.l.n.r.: Domingos Dias Martins, o "Internacional", Zé Lopes, Rute













Das Haus des João Cabrilho






















Weidende Barroso-Rinder
























Minas de Carris - Zerstörte "deutsche" Häuser














































































































































Das Denkmal des Joåo Cabrilho























































































































Sr. Manuel Afonso


















Ein Prachtskerl von einem "mariola"












































Pferde - "garranos"