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Rückkehr nach Lindeira

Von Judith N. Klein *

September 1973

Tief ins Gebirge - die zwischen Minho und Trás-os-Montes gelegene Serra do Marão - hat sich ein Flüsschen eingegraben. Die Schlucht weitet sich und macht Platz für eine Ansammlung von Hütten. Sie sind direkt auf die Felshänge gebaut, sind Stein aus ihrem Stein, noch ganz verwachsen mit der Natur. Doch die kleine Siedlung ist auch Teil einer entwickelten Kultur: Am Flussufer sind die schmalen Randstreifen mit Erde - vielleicht vom Fluss angeschwemmte fruchtbare Erde - aufgeschüttet, bewässert und bepflanzt. Kleine Gärten folgen aufeinander. Zu beiden Seiten, ein geringes Stück den Fluss entlang, stehen Weinstöcke. Ihre Ranken klettern bis auf ein Drahtnetz, das über den kleinen Fluss gespannt ist, und bilden ein schattenspendendes Dach, von dem sich blaue Trauben senken.

Nahe bei Lindeira ist der Weg kein Weg mehr: Ziel und Ordnung sind ihm abhanden gekommen. Tief sind seine Zerklüftungen. Dichtes Gebüsch schützt ihn. Doch dann tut sich ein Panorama auf, das gemalt zu sein scheint: Ockerfarbige Granitsteinhäuser und graugrüne Felsen lagern am Hang, dazwischen und rund herum üppige Vegetation: Weinstöcke, Agaven, Kiefern, Palmen, Feigenbäume, Eukalyptusbäume mit blaugrau gescheckten Stämmen und silbrig glänzendem Laub, das die Sonne nicht am Durchscheinen hindert.

Wundersam in dieser Harmonie erscheinen mir die hohen weidenähnlichen Bäume, die - etwas weiter den Abhang hinauf - den Weg säumen. Sie sind über und über mit blauen Trauben behängt! Und dazwischen hängen wie Affen seltsame Gestalten! Es sind Traubenpflücker, ausschließlich Männer, die auf fast senkrecht an die Stämme und Äste gelehnten, zehn bis elf Meter hohen Leitern stehen. Die aus Eukalyptusholz gearbeiteten Seitenleisten der Leitern sind so fein und schmal, ihre Sprossen liegen so weit auseinander, dass sie im Gewirr aus Ästen und Weinranken fast unsichtbar sind. In den Leitern ist noch die Schlankheit der Eukalyptusbäume zu erkennen.

Plötzlich höre ich den fordernden Ruf: torna, torna, torna..., komm zurück, komm zurück, komm zurück. Gemeint sind die Mädchen und Frauen: Sie sollen die großen, in der Kelter ausgeleerten Körbe zurückbringen. Sobald sie dann zurückgekehrt sind, lassen die Traubenpflücker an Kordeln befestigte, mit Trauben gefüllte Körbchen in die Tiefe. Die Frauen leeren sie in die großen Körbe... Und weiter geht der Reigen: torna, torna, torna... Es sind die ersten Worte, die ich in Lindeira vernehme - nicht Wörter, sondern Beschwörung: Klingt aus ihnen nicht die Sehnsucht nach den Frauen, die Hoffnung, sie möchten immer, überall, schnellstens "da sein"?

Am Berghang kann sich der Blick an den Gestalten des Granits berauschen: steil, gezackt und rund, emporstrebend oder langgestreckt, schmal oder wuchtig, zerklüftet oder glatt, sanft ansteigend oder abrupt abfallend, vereinzelt oder gehäuft - Flächen, Blöcke, Spitzen, Kuppen, Kugeln, ein Meer von riesigen Steinmulden und Steinbäuchen, von sich überlagernden Bergrücken ... Ganze Tage und Nächte verbringe ich auf den Granitfelsen, vom einen zum anderen wechselnd. Die Fläche des einen benutze ich als Tisch, die Kante des anderen als Sitz. Bei Regen krieche ich unter ihre Wölbungen, bei Sonne lege ich mich in ihre Mulden. Ich fühle die Härte des Granits, seine Granulierung und die Wärme, die er noch lange nach Sonnenuntergang in sich hält; und ich spüre etwas vom Streben der Materie nach Bestand und Ewigkeit, nach Lebendigkeit und Vielfalt.

Alles, was die Lebensform in und um Lindeira prägt, ist aus diesem Stein: Straßen, Brücken, Burgen, Kirchen, Häuser, Ställe, Maisspeicher, Skulpturen. Die Granitbauten gehören zur Landschaft, zu den Bergen, aus denen sie herauszuwachsen scheinen, zu den Tälern, die sie aufgenommen haben. Und dann die endlosen Mauern aus lose aufgeschichteten Steinen, die ganze Berge und Wälder, Wiesen und Felder, Gehöfte und Gärten, Straßen und Plätze begrenzen! Es bleibt ein Geheimnis, wie die Menschen ohne Maschine - allein mit Ochsen, mit Baumstämmen, Ästen, Seilen und Eisenwerkzeugen - Abertausende von Mauern aus hundert, zweihundert und mehr Kilo schweren Steinen durch diese Landschaft haben ziehen können.

September 2000

Als sich der Weg auf das Panorama öffnet, entfährt mir der Ausruf: "Wie kahl das jetzt ist!" Der Wald ist abgeholzt und ein Teil der Granitfelsen verschwunden - ein irritierender Eindruck: Was ist geschehen?

Plötzlich werde ich durch ein Dröhnen, durch Bohr- und Schneidegeräusche, ja durch Explosionen aufgeschreckt. Lastwagen schlängeln sich über schwer befahrbare Wege in den Berg, um Granit wegzuholen. Der obere Teil des Berges ist in eine riesige Terrassenanlage verwandelt worden.

Ich bin auf den Berg hinaufgestiegen. Halbierte, tranchierte Felsen, aufgeschlitzte Steinbrocken und auf den Abtransport wartende Granitplatten säumen den Hauptweg, in den sich die Räder der Laster und die Ketten der Planierraupen eingegraben haben. Einige verschonte Granitformationen haben sich in die Schattenwürfe des Berges geflüchtet, andere rahmen die terrassierten Hänge ein. Sie ähneln Überbleibseln einer Katastrophe...

Als ich oben angekommen bin, suche ich das Tal nach den alten Weinbäumen ab - wie Hüter einer alten schönen, vernünftigen Ordnung waren sie mir einst erschienen. Keinen einzigen kann ich mehr entdecken.

Auf dem Rückweg nach unten nehme ich mir Zeit, schaue nach rechts und nach links. Statt der Weinbäume sehe ich Weinterrassen, begradigte Terrassen, ausgestattet mit Granitpfosten. Man hat die alte Anbauform imitiert: Die Pfosten haben einen Aufsatz aus Eisenstangen, die mit "Leitseilen" verbunden sind. So gestattet man den Reben, in fast so luftigen und sonnigen Höhen zu wachsen wie einst in den Zeiten der Weinbäume.

Zwei Frau treten aus dem Haus, das einst Recanto genannt wurde, setzen sich auf die Bank neben der Tür. Die eine ist jung und hat ein weiches, argloses Gesicht; die andere ist alt und hat ein faltiges, oliv-graues Gesicht - wie ein Vorhang vor einem großen Schmerz.
- Was ist passiert? Wo sind die Felsen? Wo sind die Weinbäume? Wo ist der Wald?
Die alte Frau antwortet mit einer Geste, die Verschwinden ausdrückt: desaparecidos.
- Weshalb?
- Senhor R. hat Geldprobleme, kann die Quinta kaum halten.
- Und der vinho de enforcado?
- Fort... Niemand will mehr die Leitern hochklettern.
- Und der Wald?
- Fort... Die Brände...

Später erfahre ich von Senhor R., dass im Sommer Brände den Wald zerstörten. Früher wurde der mato, das zwischen den Eukalyptusstämmen wachsende Gestrüpp aus Stechginster, als Dünger verwandt. Dann brauchte niemand mehr den mato, und die Wälder verwilderten. Da, wo einst Wege den Abhang entlang führten, ließ das stechende Dickicht oft nichts und niemanden mehr durch - außer Flammen. Das dichte Unterholz erleichterte den Brandstiftern das "Handwerk". Nun ziehen die Fahrzeuge, die zum Granitabbau und -transport kommen, breite Trassen und tiefe Furchen über den Berghang...

Ich werde noch einmal auf den Berg hinaufsteigen. Es gibt Tage, an denen man den Eindruck hat, dass die Welt im Licht stehen geblieben ist und das Sichtfeld keine Grenzen kennt. Es ist ein solcher Tag. Doch nicht nur das Licht entgrenzt das Sichtfeld. Die Abwesenheit des Waldes gibt den Blick frei auf die Hügel- und Bergketten Nordportugals, und ich erkenne: Nicht alles Vermissen, nicht jede von der Moderne und ihren Zwängen aufgerissene Wunde behält das letzte Wort. Und aus weiter Ferne höre ich das "torna, torna, torna" - ein Ruf, der in sich Wiederholung ist und den die Sehnsucht ewig wiederholt.


* Der Text ist Teil eines Buchprojekts über Nordportugal. Judith N. Klein ist Übersetzerin und Autorin ("Die Übersetzerinnen ... oder weil es in Deutschland keine Lamas gibt", Oldenburg 2002; Rundfunksendung "Marranen sind wir...", NDR Kultur, 20.9.05, 20:05 Uhr). Sie lebt in Osnabrück und Paris.




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Portugal-Post Nr. 31 / 2005


Lindeira




Trockenmauerwerk in Lapela:
Haus des João Rodrigues Cabrilho, Entdecker Kaliforniens




Weinernte hoch in den Bäumen





























Abgeholzter Wald




Blick von der Höhe