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Theologisch-philosophische Reaktionen auf das Erdbeben

Von Luise Albers

Wie im Artikel "Candide in Lissabon" von Peter Koj (Seite 11-14) zu lesen ist, wurde knapp vier Jahre nach dem Erdbeben Voltaires Buch Candide geschrieben. In diesem Werk beschreibt Voltaire auf satirische Weise die beiden üblichen Antworten, die seine Zeitgenossen auf ein Ereignis dieser Art gaben:

Die erste, verkörpert im universellen Optimismus, der vermutlich u. a. durch Leibniz (1646-1716) und Pope (1688-1744) inspiriert wurde, ist jene, die das Erdbeben als ein zu akzeptierendes Unglück begreift in der Annahme, dass alles, was geschieht, genau das ist, was geschehen sollte (weil es unter der Berücksichtigung, dass alles gut ist, unmöglich ist, dass die Dinge anders sind, als sie sind.) Der Dichter Pope schreibt dies in seinem Essay on Man mit dem berühmten Satz "Whatever is, is right." Der Philosoph Leibniz hat den Begriff "Theodizee" (Rechtfertigung Gottes, 1710) geprägt. Danach ist die von Gott geschaffene Welt zwar "die beste aller Welten", doch das bedeute nicht, dass sie vollkommen sei. Dies sei nur Gott selbst. Diese Idee fügt sich in die neue, rationale Metaphysik der Aufklärung. Wie die Wahrscheinlichkeitsrechnung und der Infinitesimalkalkül ordnete sie das einzelne, das für uns ein Unglück sein kann, in den Zusammenhang des großen und vollkommenen Ganzen ein. Mit solchen Theorien machten es sich die Menschen des 18. Jahrhunderts bequem mit den Errungenschaften der Aufklärung. (Obwohl man diese Errungenschaften keineswegs geringschätzen sollte, ist Bequemlichkeit doch immer eine unangebrachte Haltung, um dem Lauf der Dinge zu begegnen und die Ereignisse zu interpretieren.) Außerhalb Portugals fühlte man sich klein angesichts der Bedrohung und doch wieder groß, weil man das Gewaltige in der Empfindung als erweiternd und den Blick auf den Urheber solcher Ereignisse ziehend wahrnahm.

Die zweite Antwort auf das Erdbeben ist jene, die das Erdbeben für eine Frucht der menschlichen Sünde hält, die man auf möglichst radikale Weise austreiben muss, um die (vermeintlich) zerstörte transzendente Ordnung wieder herzustellen. Voltaire akzeptiert weder die erste Antwort (den harten Optimismus) noch die zweite (den frommen Grimm der Inquisition). Ihm geht es um das Bewusstsein, dass es Schlimmes in der Welt gibt, dass einiges dieses Schlimmen völlig unerträglich ist und nicht nur dem Verständnis, sondern auch der Kontrolle des Menschen unzugänglich. Wenn es irgendetwas "Positives" an Katastrophen wie dem Erdbeben gibt, so ist es, den Schmerz und die Verletzlichkeit des Menschen zu erweisen.

Rousseau (1712-1778) wiederum verteidigte den Optimismus gegen Voltaire, begründet darin, dass es besser für den Menschen sei zu sein, als nicht zu sein, und indem er praktischere (und angesichts der Folgen des kürzlich stattgehabten Tsunami aktuelle) Fragen stellt: Warum wurde die Stadt gerade dort gebaut? Warum baute man Wohnblocks ohne die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen?

Ein weiterer bekannter Philosoph war im November 1755 31 Jahre alt und hatte bereits ein beachtliches Werk im Bereich der "Naturphilosophie", vor allem der Astronomie, veröffentlicht: Kant (1712-1778). Als die Stadt Lissabon im Zusammenspiel von Erdbeben, Seebeben und einem großflächigen, lange andauernden Brand zerstört wurde, gab es kaum einen europäischen Intellektuellen, der besser vorbereitet gewesen wäre, um die Lissabonner Tragödie wissenschaftlich aufzuarbeiten. Kants Ideen nehmen im Groben den mentalen Horizont vorweg, der ein Jahrhundert später die Blüte der Evolutionstheorie von Charles Darwin ermöglichte. Daneben geht es Kant um philosophische und politische Überlegungen. Der Anblick der Elenden solle "die Menschenleiber rege machen" und die Menschen daran erinnern, "dass die Güter der Erden unserm Triebe zur Glückseligkeit keine Genugtuung verschaffen können." Umso wichtiger ist es, das vom Menschen abhängige Handeln vom Wirken der Natur zu unterscheiden. Kriege abzuwenden stehe in menschlicher Macht, während wir auf Naturkatastrophen keinerlei Einfluss haben.

Das zum Positiven zu verändern, was in unserer Macht steht, ist sicher eine vernünftige und wichtige Aufgabe, wenngleich sie keine Antwort auf die alte Menschheitsfrage nach der (göttlichen) Gerechtigkeit des Schicksals gibt. "Warum gerade ich? Wo ist Gott?" sind Fragen aller Zeiten und unabhängig von der Religionszugehörigkeit. Sie tauchen schon in der Bibel auf, z.B. im Buch Hiob oder in Jesu Satz am Kreuz: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Bischof Huber (EKD-Ratsvorsitzender) erklärte im Zusammenhang mit dem Tsunami: "Gottes Allmacht bedeutet nicht, dass Gott alles Böse und Unbegreifliche verhindert." Vielmehr zeige sich die Allmacht "in der Liebe, mit der Gott sich uns zuwendet, damit wir uns auch angesichts des Unbegreiflichen an ihr orientieren."





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Portugal-Post Nr. 32 / 2005


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