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Gil Vicente, ein Multitalent im Goldenen Zeitalter

Von Renate Petriconi *

Fast schon als ein Jubiläum kann ich meine zehnjährige Mitarbeit als Autorin und Redakteurin für Portugal am Allgemeinen Künstlerlexikon bezeichnen. Dieses internationale Lexikon mit angeschlossener Datenbank des Saur Verlages mit Sitz in München und Leipzig hat sich die ungeheure Aufgabe gestellt, den legendären Thieme/Becker, Allgemeines Lexikon der bildenden Künste von der Antike bis zur Gegenwart, Leipzig 1907-50 zu überarbeiten bzw. neu zu schreiben. Dieses umfangreiche Werk ist, auf ca. 160 Bände ausgelegt (derzeit erschienen 49 Bände bis Buchstabe Ga), das größte weltweit und richtet sich seines hohen kunsthistorischen Anspruchs wegen in erster Linie an den Wissenschaftler, wird jedoch auch von interessierten Laien genutzt. Die Bände sind in jeder namhaften Bibliothek einzusehen. Da gerade der große Dramatiker und Goldschmied Gil Vicente zur Bearbeitung anstand und dieser Künstler für Portugal von so überragender Bedeutung ist, möchte ich versuchen, die PHG-Mitglieder über meine Recherchen weitgehend frei von Fachausdrücken zu informieren.

Wie leider so oft, sind die gesicherten Quellen sehr dürftig. Gil Vicente wurde um 1465-70 in Guimarães geboren. Wahrscheinlich ist er identisch mit dem 1509 zum königlichen Goldschmied ernannten, 1513 durch Manuel I zum Mestre da balança (Münzmeister) an der Casa da Moeda (Münze) von Lissabon bestellten Dichter. Da dieses Bestallungs-Dokument mit trovador e mestre da balança unterzeichnet ist, geht die Forschung nach Erörterungen im 19. Jahrhundert heute von ein und derselben Person aus.

Gil Vicente war noch unter João III Hofdichter sowie Organisator höfischer Feste. Er trat 1531 in einem Brief an den König gegen den Aberglauben und die Judenverfolgung ein, da João III in der ersten Etappe seiner Regierungszeit als toleranter Renaissance-Fürst galt, der alle internationalen Denkrichtungen duldete. Als dieser jedoch unter Einfluss der sich niedergelassenen Jesuiten zum fanatischen Verteidiger des christlichen Glaubens wurde, musste sich in hohem Alter auch Gil Vicente 1536 mit der neu in Portugal eingerichteten Inquisition auseinandersetzen, die einen Teil seiner Werke verboten hatte.

Gil Vicente war Anhänger einer bedeutenden Strömung des spanischen Humanismus, dem Erasmismus, gilt als Begründer des portugiesischen Theaters und sein Werk besteht aus über vierzig, teils in portugiesisch und spanischer Sprache, überwiegend in einer Mischung beider Sprachen geschriebenen Stücken. Die Aufführungen fanden unter seiner aktiven Beteiligung mit Musikbegleitung zu festlichen Anlässen in Kirchen, Klöstern und Palästen statt. Er vereinigte volkstümliche portugiesische Traditionen mit humanistischem Bildungsgut sowie in Frankreich, England und Spanien entstandenen neuen Theaterformen mit vorreformatorischen Bestrebungen. Die bereits in den Titeln erscheinenden Gattungsbezeichnungen (auto, farsa, comédia) wurden in den religiösen Theaterstücken, den moralidades, inhaltlich erweitert.

Seine zunächst in Form von fliegenden Blättern verbreiteten Stücke waren in der Anfangsphase Hirtenspiele, sogenannte inszenierte Eklogen (z.B. Auto Pastoril Castelhano, 1509; Auto da Fé, 1510). Es folgte religiöses Theater in Form von Moralstücken wie die Folge Auto da Barca do Inferno (1517), Auto da Barca do Purgatório (1518) und Auto da Barca da Glória (1519), in denen der Autor Unzucht und Rechtsbeugung des Adels und der Geistlichkeit behandelte. Um 1522 schlossen sich Ritterspiele (D. Duardos, 1522), Satiren mit komischen und sinnbildlichen Wesenszügen (Farsa dos Almocreves, 1527; Romagem de Agravados, 1533) an, in denen skurrile Typen aller Stände unter Verwendung von Dialekten und Spracheigenarten von Minderheiten der Lächerlichkeit preisgegeben wurden.

Eine vom Autor geplante Sammlung seiner Stücke wurde erst 1562 durch seinen Sohn, jedoch unter Textänderungen der Inquisition, realisiert. Gil Vicentes literarisches Werk ist die größte Leistung des älteren portugiesischen Theaters, die erst mit dem Dichter Almeida Garrett im 19. Jahrhundert Ebenbürtiges erfuhr.

Gil Vicente war ein Multitalent, er genoss bereits zu Lebzeiten großes Ansehen. So trat er 1512 als Gildesprecher der Gold- und Silberschmiede Lissabons auf, und seine Stellung wurde 1513 noch durch die Ernennung zum Münzmeister gefestigt. Als königlicher Goldschmied war er bis 1517 auch für Manuels Schwester Dona Leonor, Witwe von João II, tätig. Obwohl er damit Superintendent aller Gold- und Silberarbeiten der drei namhaften religiösen Häuser wie des Klosters von Jerónimos in Belém, des Hospitals Todos-os-Santos in Lissabon (1755 beim Erdbeben zerstört) und in Tomar des Klosters Ordem de Cristo war, ist die Custódia de Belém sein einzig bekanntes Werk.

Die Custódia ist eine im iberischen Raum entwickelte Sonderform der Monstranz. Sie besteht aus einem Schaft mit einem montierten Schaugefäß, in dem eine geweihte Hostie zur Anbetung ausgesetzt oder bei Prozessionen mitgeführt wird. Auf Grund der Überlieferung des Chronisten João de Barros setzte Manuel I 1503 bei Rückkehr der Armada von Vasco da Gamas zweiter Indienreise und den Erträgen aus Quíloa (heute Quilon) fest, dass aus den fälligen königlichen Abgaben eine goldene Custódia von bisher nie dagewesener Pracht hergestellt werden sollte.

Geweiht wurde sie 1506 der Nossa Senhora de Belém und im Chor der gleichnamigen Kirche des Klosters von Jerónimos in Belém aufgestellt. Die Ausführung dieses Werkes wurde Gil Vicente in Auftrag gegeben und laut königlichem Testament von 1517 auch von ihm vollendet. Die Custódia de Belém, heute im Museu Nacional de Arte Antiga in Lissabon ausgestellt, ist ein Meisterwerk nationalen Ranges, nicht nur bedeutendste Goldschmiedearbeit Anfang des 16. Jahrhunderts, sondern der portugiesischen Kunst generell.

Das erlesene Werk zeigt den herkömmlichen architektonischen Stil der Epoche: Auf dem gerillten, reich dekorierten Fuß und Schaft ruht der Hostienbehälter, der von Säulen, Strebepfeilern und schlanken spitzen Türmchen umgeben ist. Darüber erhebt sich ein das Gehäuse überhöhender zweistufiger bekrönender Turmaufbau. Der segnende, ja liebevoll dreinblickende Gottvater thront an der Spitze unter einem kunstvollen Baldachin. Nicht nur das Material, sondern auch die Figurenvielfalt, wie die musizierenden Engel und die um den Behälter herum kniend angeordneten zwölf Apostel mit ihren zum Betrachter gerichteten Füßen, machen die Arbeit zu einem außergewöhnlichen Kunstwerk. Jede mehrfarbig in Email überfangene Figur ist individuell gestaltet und ähnelt den holzgeschnitzten Skulpturen eines Altarschreins. Die Technik der Emailkunst bei vollrunden Gegenständen hatte in Portugal Anfang des 16. Jahrhunderts keine Vorbilder und ist wahrscheinlich unter Mitarbeit von burgundisch-französischen Goldschmieden, zumindest unter ihrem Einfluss im Land kultiviert worden. Die Oberflächen der Plastiken sind rundum in allen Einzelheiten äußerst sorgfältig durchgearbeitet. Die genau profilierten Kleiderfalten gliedern die Figuren und stimmen in ihrem Verlauf lebensnah mit den anatomischen Gegebenheiten der Personen überein. Besondere Aufmerksamkeit schenkte der Goldschmied den gewellten Haartrachten und gepflegten lockigen Bärten.

Im Ganzen gesehen ist diese Custódia eine gotische Schöpfung und Gil Vicente dürfte den Entwurf des Süd-Portals für die Kirche Nossa Senhora de Belém von Diogo Boytaca gekannt haben. Jedoch sind die Verzierungen auf dem Fuß, unter anderem in Zellenschmelz dekorierte exotische Vögel, Granatäpfel, Schnecken etc., zusammen mit den Armillarsphären (königliches Sinnbild Manuel I) rings um den Schaft, kennzeichnende Merkmale des Manuelinischen Stils.

Dieses überragende Stück war im 17. Jahrhundert im Mittelteil zu einer Turmmonstranz umgebaut worden, wobei man den runden Glaskörper zu Gunsten einer Mond- bzw. Sonnenscheibe entfernte. Erst 1929 stellte der Goldschmied José Ferreira Tomé auf Betreiben des damaligen Direktors des Museu Nacional de Arte Antiga in Lissabon den ursprünglichen Zustand wieder her.

Gil Vicente verstarb 1536 oder wenig später in Lissabon. Sein Leichnam wurde in der Kirche São Francisco in Évora unmittelbar bei der 1. linken Seiten-Kapelle im Langschiff beigesetzt. Nicht zu verwechseln ist Gil Vicente mit dem gleichnamigen mehr regionalen Maler, Begründer der Escola de Vicente Gil - Manuel Vicente in Coimbra, der 1518 verstarb.


* Renate Petriconi ist Kunsthistorikerin und lebt zusammen mit ihrem Mann, dem Meeresbiologen Dr. Victor Petriconi, Sohn des zuletzt an der Universität Hamburg tätigen Romanisten Prof. Helmuth Petriconi, in Praia da Luz (Lagos)




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Portugal-Post Nr. 35 / 2006


Custódia de Belém
1503-06 von Gil Vicente in Gold und mehrfarbigem Email ausgeführt.
Höhe 73cm, Gesamtgewicht 6.480 Gramm
Museu Nacional de Arte Antiga, Lissabon