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ESSA NOSSA DITOSA LÍNGUA VI
Vom Reichtum der portugiesischen Sprache

Von Peter Koj

Man hört häufig den Spruch von Portugal als dem "Armenhaus Europas", das sich den untersten Rang auf der sozialen Skala mit Griechenland und Irland streitig macht. Bei dieser Bewertung zählen aber nur solch dubiose wirtschaftliche Faktoren wie das Bruttosozialprodukt, das ja bekanntlich auch durch Verkehrsunfälle u.ä. gesteigert wird.

Portugals Reichtümer schlagen dabei nicht zu Buch: das Erbe seiner langen und wechselvollen Geschichte (bes. auf dem maritimen Sektor), der Reichtum seiner kulturellen Szene (von der Folklore bis zu den modernen Vertretern von Literatur, Architektur, Musik, Malerei, Film etc), die Schönheit der Landschaft, die Gastronomie, die Freundlichkeit und Gastfreundschaft seiner Menschen.

Portugal ist also in Wahrheit ein reiches Land. Und sein größter Reichtum ist unstrittigerweise seine Sprache. Dabei ist das Bewußtsein, eine besonders reiche und differenzierte Sprache sein eigen zu nennen, in Portugal weit verbreitet, und zwar in allen sozialen Schichten. So hielt mir gleich in der ersten Woche, nachdem wir uns in Portugal niedergelassen hatten und eine Reparatur an unserem Haus ausführen lassen mußten, der herbeigerufene Klempner erst einmal ein kleines linguistisches Kolleg über den Reichtum der portugiesischen Sprache, in der "Zange" nicht gleich "Zange" sei: alicate entspricht unserer "Flachzange", während "Kneifzange" je nach Größe und Form tenaz oder turquês genannt wird.

Im Gegensatz zum Deutschen, das zur genaueren Bezeichnung eines Gegenstandes den Oberbegriff - in diesem Falle "Zange" - mit einem Zusatz versieht wie "Flach-", "Kneif-", "Rohr-" etc, der die Form oder Funktion näher bestimmt, verfügt das Portugiesische über einen ganz spezifischen Ausdruck, den man kennen muß, wenn man sich unmißverständlich ausdrücken möchte. So gibt es im Portugiesischen einen bestimmten Begriff für die vom Baum gefallene Kiefernadel (caruma). Ein einziges Verb drückt aus, daß es aufhört zu regnen (estiar) oder dafür daß jemand sich noch einmal überrasiert, damit er auch ganz glatt im Gesicht ist (escanhoar). Ein anderes eindrucksvolles Beispiel sind die - je nach Tierart - verschiedenen Ausdrücke für "Herde/Rudel" oder "Schwarm": rebanho (Schafe, Ziegen), manada (Rinder), cabrada oder fato (Ziegen), vara oder vezeira (Schweine), cáfila (Kamele), matilha, cainça oder canzoada (Hunde), alcateia (Wölfe), bando (Vögel), cardume (Fische), enxame (Bienen).

Der Gipfel ist sicher der spezielle Ausdruck für das Jucken oder Scheuern, welches das Pferd an einer bestimmten Rippe - war es die fünfte? - verspürt, weil ein bestimmter Riemen des Zaumzeugs es an dieser Stelle scheuert. Leider habe ich mir dies schöne Wort nicht gemerkt. Doch wenn es mir über den Weg laufen sollte, wird es nachgeliefert. Mit dieser Spezifizierung erinnert das Portugiesische in mancher Beziehung an Sprachen wie das Arabische, wo es mehrere Hundert Ausdrücke für "Kamel" (je nach Alter, Größe, Farbe etc) gibt, aber keinen Oberbegriff (ähnliches gilt für "Schnee" in den Eskimosprachen). Der damit verbundene Reichtum des Wortschatzes hat - ähnlich wie der Artenreichtum in der Natur - etwas Faszinierendes, kann aber auch als Last empfunden werden.

So stöhnt der kürzlich verstorbene portugsiesische Schriftsteller José Cardoso Pires in seinem Roman "O Delfim" (1968): "... a língua pátria que herdámos é, como não se ignora, uma das mais ricas do mundo. Está cheia de bengalas por dentro e carregada de palavras a mais" (7. Auflage von 1978, S.345). Zu deutsch etwa: "... die Muttersprache, die wir geerbt haben, ist, wie man wohl weiß, eine der reichsten der Welt. Sie geht am Stock (wörtlich: sie ist von innen voller Spazierstöcke) und ist befrachtet mit zu vielen Wörtern." Inwieweit Portugiesisch wirklich zu den reichsten Sprachen der Welt gehört, kann ich durch keine gesicherten Zahlen belegen. Allgemein gilt Englisch aufgrund seines doppelten Erbes (germanisch und romanisch) mit ca 600.000 Wörtern als die wortreichste Sprache der Welt. Doch die CD-ROM-Fassung des Dicionário da Língua Portuguesa Profissional (Porto Editora) bietet schon alleine 500.000 Wörter, also nicht viel weniger als das Englische.

Der Reichtum des portugiesischen Wortschatzes hat neben der Existenz einer Fülle von Spezialausdrücken noch eine zweite Ursache, nämlich für ein- und dieselbe Sache verschiedene Ausdrücke, sogenannte Synonyme, parat zu haben. So kann ich für "erschöpft/ermüdet" auf portugiesisch sagen: acabado, arrasado, cansado, derreado, desfalecido, esfalfado, esgotado, estoirado, estafado, exausto, extenuado, fatigado, gasto, lasso, partido, pisado, prostrado, rebentado, trespassado, aos tombos, de rastos, nas lonas etc. Natürlich sind diese Ausdrücke nicht absolut deckungsgleich. Manche bezeichnen eher physische, andere mehr psychische Erschöpfung. Auch bezeichnen sie einen unterschiedlichen Grad der Erschöpfung. Schließlich sind sie sind auch nicht alle auf derselben Stilebene: es gibt gehobene Ausdrücke wie z.B. exausto einerseits und umgangssprachliche wie estoirado/rebentado andererseits, wobei cansado/esgotado die neutrale Mitte hält.

Während meines 7jährigen Portugalaufenthaltes faszinierte mich dieser Reichtum des portugiesischen Wortschatzes so, daß ich Sammlungen von synonymen Ausdrücken anlegte und die z.T. sehr feinen Unterschiede mit meinen portugiesischen Freunden abklärte. Diese waren selbst verblüfft über die Menge der Synonyme, die ich für manche Begriffe zusammentrug. So kam ich auf mehr als 20 Ausdrücke für "bummeln" (vadiar, andar aos cucos, andar à malta, andar na vida airada, andar na pândega, levar uma vida flauteada, pintar os tectos ao Rossio, andar aos gambuzinos etc etc), mehr als 30 Wendungen für "Spott" oder "Hohn" (troça, escárnio, galhofa, mangação, mofa, vaia, zombaria etc etc) und ebenso viele Ausdrücke für "sich betrinken" (embriagar-se, embebedar-se, empielar-se, empifar-se, inebriar-se, toldar-se, apanhar uma borracheira etc etc).

Für "fliehen/flüchten" fand ich ungefähr 50 Ausdrücke (debandar, descampar, escapulir-se, fugir, pirar-se, safar-se, sumir-se, zarpar, andar na mecha, dar às canetas, levar sumiço, bater a asa etc etc) und für einen "Schuft" oder "Schurken" mehr als 60 (aldrabão, biltre, escroque, gabiru, malandreco, maroto, meliante, patife, pulha, sacana, traste, tratante, vadio, vigarista etc etc). Für ein Land, das sich etwas auf seine sanften Sitten, brandos costumes, zugute hält, überrascht die hohe Zahl für irgendwelche Prügel oder Schläge (coça, esfrega, espancamento, estalo, murro, pancada, piparote, porrada, soco, sova, sopapo, surra, tabefe, tareia, turra etc etc). Wenn man all die Ausdrücke dazunimmt, die man gewinnt indem man an den Körperteil oder den Gegenstand, mit dem man den Schlag ausübt, einfach die Endung -ada anfügt, kommt man leicht auf über 100 Ausdrücke.

So ist eine paulada ein Schlag mit einem Stock (pau) und eine cotovelada ein Stoß mit dem Ellbogen (cotovelo). Ein Schlag mit der Handfläche (palma) ist eine palmada, nicht zu verwechseln mit der palmatoada, dem Schlag, den man auf die Handfläche erhält. Dieser wurde an portugiesischen Schulen vor dem 25 de Abril vom strengen Herrn Lehrer (Sôtor = Sr. Doutor) mit einer sog. palmatória verabreicht, einer Handklatsche, die auch unter dem liebevollen Namen menina dos cinco olhos, "das Mädchen mit den fünf Augen", bekannt war. Die fünf Augen waren die fünf Löcher, die man sadistischerweise in dem Prügelgerät gelassen hatte, damit es mit möglichst geringem Luftwiderstand auf die Hand des armen Sünders hinaubsausen konnte. Outros tempos! Doch noch heute sagt man in Portugal, wenn man eine Schuld eingesteht: "Dou a mão à palmatória" .

Absoluter Spitzenreiter mit gut 130 Ausdrücken ist allerdings meine Sammlung von portugiesischen Bezeichnungen für "Dummkopf/Verrückter". Hier nur eine kleine Auswahl: alvar, azelha, basbaque, besta, bobo, boçal, burro, camelo, doido, estafermo, estúpido, idiota, ignaro, lorpa, louco, maluco, marreta, mono, nabo, pacóvio, palerma, papa-açorda, papalvo, parvo, patego, pateta, sandeu, tolo, tonto, trouxa. Wenn Sie Lust auf mehr haben, müssen Sie unsere website im Internet anklicken. Dort finden Sie die vollständigen Listen aller in diesem Artikel erwähnten Begriffe. Meine Sammlung ist natürlich mehr als unvollständig, und ich würde mich über Ergänzungen Ihrerseits freuen. Wozu professionelles Wortschatzjägertum führen kann, zeigen die Listen, die Prof. Kröll von der Universität Mainz in der Zeitschrift Lusorama mit schöner Regelmäßigkeit veröffentlicht. Seitenlang reihen sich bei ihm vor allem Ausdrücke aus dem Bereich "Sexualität" und "Körperteile", zumal er auch Regionalismen bzw. Provinzialismen der gesamten portugiesischsprachigen Welt berücksichtigt.

Die portugiesische Sprache besitzt aber nicht nur einen reichen Wortschatz. Der Reichtum der portugiesischen Sprache spiegelt sich auch in der Vielfalt und Plastizität von Redensarten und Sprichwörtern (verdient einen eigenen Beitrag in dieser Reihe), in den verschiedenen Stilebenen vom calão (Slang) bis hin zur gebildeten Ausdrucksweise (língua erudita) und schließlich in einer Grammatik, deren Formenreichtum (ich denke z.B. an die sechs verschiedenen Konjunktive, den persönlichen Infinitiv, die unregelmäßigen Plurale etc) sicher dem fremden Portugiesischlernenden viel Kopfzerbrechen bereitet, dem Muttersprachler jedoch das Gefühl verleiht, über ein besonders kompliziertes und damit kostbares Ausdrucksmittel zu verfügen. Die über die ganze Welt verstreuten 200 Millionen portugiesischsprechenden Menschen müssen das jedenfalls so empfinden. Denn trotz der politischen Wunden, die die Vergangenheit geschlagen hat, haben sich die sieben lusofonen Länder (Portugal, Brasilien, Angola, Moçambique, Guiné Bissau, Cabo Verde, S. Tomé e Príncipe) unter dem Banner der gemeinsamen Sprache zu einem losen Staatenbund zusammengefunden, der Comunidade dos Países de Língua Portuguesa.





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Portugal-Post Nr. 5 / 1999



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