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Der 25. April und der 1. Mai 1974

Von Hans Blume

Das Lied, das den Staatsstreich auslöste
Um 0 Uhr und 30 Minuten am 25.April 1974 liest der Sprecher des katholischen Rundfunks "Rádio Renascença" die erste Strophe des Liedes "Grândola Vila Morena" des antifaschistischen Protestsängers José Afonso. Es gehörte zu den zahlreichen von der Diktatur totgeschwiegenen Liedern des Komponisten und vieler seiner Gefährten. Den Machthabern war es ein Ärgernis, den Unterdrückten und Verfolgten eine Stimme der Hoffnung.

Grândola vila morena
Terra da fraternidade
O povo é quem mais ordena
Dentro de ti ó cidade

Grândola kleine braune Stadt
Heimat der Brüderlichkeit
Das Volk ist es, das am meisten bestimmt
In dir, du Stadt


Nach der Lesung dieser Verse erklang das Lied selbst, gesungen von José Afonso. Aber in dieser Nacht hatten die meisten jungen Soldaten und ihre Kommandanten in den Kasernen des Landes keine Zeit, sich das ebenso populäre wie selten erklingende Lied bis zum Schluß anzuhören. Für alle militärischen Einheiten, die sich zum "Movimento das Forças Armadas" (kurz: MFA), das heißt zur "Bewegung der Streitkräfte", bekannten, waren die Verse das vereinbarte Zeichen zum bewaffneten Aufstand.

Knapp 18 Stunden später hatte die "Bewegung der Streitkräfte" (jüngere Offiziere, meist im Rang eines Hauptmanns, bildeten den Kern des Movimento) Europas älteste Diktatur gestürzt. 48 Jahre der Verfolgung und Verbannung, der Unterdrückung und Ausbeutung, der Zensur und der Folter gingen zu Ende.

Gegen militärischen Kadavergehorsam und die Diktatur
Die Escola Prática de Cavalaria (EPC) in Santarém galt und gilt als die mit Kriegsgerät, besonders leichten wie schweren Panzern, bestausgerüstete Einheit im weiteren Umkreis der Hauptstadt. Eingeweiht in die Operationspläne des MFA waren jedoch nicht der Kommandant und die anderen höheren Berufsoffiziere der Einheit, sondern der Vertrauensmann des Movimento, der 30jährige Hauptmann Salgueiro Maia. Er befehligte meist junge Offiziers- und Unteroffiziersanwärter, deren Ausbilder er war.

Es handelte sich um.Miliz- bzw. Reservesoldaten, die von der Armee und Regierung unter günstigen Bedingungen - was die Ausbildungsdauer betraf - für die Offizierslaufbahn geworben wurden. Seit Beginn der Kolonialkriege in den afrikanischen Provinzen (1961) war der Bedarf an Offizieren aus den Berufskadern nicht mehr zu decken. Zugleich sah sich das Regime zu einer sozialen Öffnung für das Offizierskorps gezwungen.

Die hierin angelegte Spannung kam in Santarém beispielhaft zum Ausbruch. Als die mit dem Hauptmann Salgueiro Maia verschworenen Kadetten bei den ersten KIängen von "Grândola Vila Morena" zu den Waffen, Transportfahrzeugen und Panzern stürzten, verweigerten sich mehrere Berufsoffiziere, darunter der diensthabende Kommandant. Letzterer versuchte sogar, das Ausrücken zu verhindern. Salgueiro Maia verhaftete ihn kurzerhand, ließ ihn, von einigen Anhängern bewacht, zurück, und zog mit seinen Leuten im Eiltempo los auf Lissabon. Diese Handlungsweise haben die konservativen Berufsoffiziere dem jungen Hauptmann bis heute nicht verziehen. Der 25.April trägt für sie vor allem den Makel des militärischen Ungehorsams, der Rebellion.

Aber dieser Tag gehörte nicht den Offizieren, die das Regime gestützt hatten, sondern den Truppen des Movimento. Über die nördliche Autobahn, die 1974 erst in Vilafranca begann, erreichte die Kolonne Maia noch vor Tagesanbruch die Außenbezirke der Hauptstadt, die sie ganz durchqueren mußte. Gegen 5.30 Uhr hatte sie über die Avenida da Liberdade ihr erstes Ziel erreicht, die Praça do Comércio am Südrand der Baixa (Banken- und Geschäftsviertel). An diesem riesigen Platz - von den Lissabonern Terreiro do Paço genannt -, der im Süden an den Tejo stößt, lagen einige der strategisch wichtigsten Ministerien, darunter das Heeresministerium, in dem sich unter anderen der Heeres- und der Verteidigungsminister verschanzt hatten. Diese konnten zwar zunächst entkommen, wurden aber später gefaßt.

Sie hatten von dem Augenblick an verloren, als die Mehrheit der angerückten Regierungstruppen ihrem Kommandanten den Befehl verweigerte und, statt anzugreifen, zu der aufständischen Kavallerieeinheit überlief. Diese mutige Entscheidung einiger Unterführer und ihrer Soldaten verhinderte ein sinnloses Blutbad, dem die ,,Nelkenrevolution" in diesem Fall nur knapp entrann.

Zugleich bedeutete sie - nach den Vorgängen in Santarém - eine erneute Absage an den traditionellen militärischen Kadavergehorsam, an den sich viele Karriereoffiziere klammerten, in Portugal selbst wie in Afrika, dürftig übertüncht durch national-patriotische Phrasen und den Appell an militärische Tugenden. Und nur dieser unblutige Sieg der Aufständischen ermöglichte ihnen den sofortigen Weitermarsch zum Largo do Carmo, oberhalb der Baixa.

Gewehre und Nelken: Das Bündnis MFA-POVO
Der Zug der Kolonne aus Santarém vom Terreiro do Paço und die steilen Straßen hinauf zum Carmo (am Rand des Bairro Alto) glich einem Triumphzug. Tausende von Lissabonern säumen, allen Ratschlägen der Operations-Zentrale des MFA zum Trotz, die Straßen, jubeln den Befreiern zu, laufen neben den Armeefahrzeugen her, viele springen auf. Die ersten roten Nelken, die der Revolution den Namen geben sollten, tauchen auf, leuchten an den Uniformen der Soldaten und aus ihren Gewehrläufen.

Die junge Truppe empfand die überschäumende Begeisterung der Zivilisten nicht etwa als störend, sondern als Bestätigung und Anfeuerung. "Von hundert auf tausend Prozent" stieg ihre Moral laut Maia. Hier stellte sich die Einheit von Movimento und Volk erstmals spontan her. Doch obwohl die Revolutionstruppen in der Nacht und den frühen Morgenstunden wichtige Siege errungen hatten (andere Einheiten hatten die Rundfunk- und Fernsehsender sowie den Flughafen besetzt), war die Entscheidung noch nicht gefallen.

"Damit die Macht nicht auf die Straße fällt": die letzten Stunden der Regierung Caetano

Der letzte Statthalter des Salazar-Regimes flüchtete sich hinter die Mauern der Kaserne der bewaffneten Polizeistreitkräfte, der Guarda Nacional Republicana (GNR), am Largo do Carmo. Die GNR galt vor 1974 und gilt auch heute noch als ein unpolitisches, williges Instrument in der Hand der Machthaber. Die blinden Erfüllungsgehilfen der Macht, die politischen Analphabeten waren die letzte Hoffnung des Rechtsprofessors Caetano.

Die Ergebung der in der Carmo-Kaserne von den Truppen Salgueiro Maias Belagerten sollte noch bis zum Abend dauern - trotz Ultimatum und MG-Salven der Belagerer gegen das Kasernentor. Mit dem ebenso geschickten wie entlarvenden Argument, daß er bereit sei, die Regierung General Spínola zu übergeben, und daß er ihn in der Carmo-Kaserne erwarte, "damit die Macht nicht auf die Straße fällt", brachte Caetano den Mann ins Spiel, den er kurz zuvor unter dem Druck der Ultras vom Posten des stellvertretenden Generalstabschefs (samt dem Generalstabschef selbst, nämlich Costa Gomes) abgesetzt hatte. Doch der ebenso eigenwillige wie anpassungsfähige Konkursverwalter des Salazarismus erkannte in dem hochdekorierten ehemaligen Gouverneur der Provinz Guinea-Bissau den Konterrevolutionär von morgen. Spínola betrat in Generalsuniform und Monokel selbstbewußt die Bühne und erreichte die formale Übergabe der Macht.

Nicht aus Überzeugung, nur um der Chance einer beschleunigten Ergebung willen haben die MFA-Führer um Otelo Saraiva de Carvalho dieses Operetten-Finale gebilligt. Vor allem die Situation am Carmo selbst dürfte den Ausschlag gegeben haben: nur mit Mühe konnten Salgueiro Maia und seine Leute die Ungeduld, den Zorn der Volksmenge beschwichtigen, die die sofortige Ergebung forderte. Aus Sorge vor einem unkontrollierten Ausbruch mit anschließenden Menschenopfern haben die MFA-Führer diesem Schlußakt zugestimmt.

Gegen 19.30 Uhr verließ ein leichtes Panzerfahrzeug den Carmo: die Panzerung schützte neben dem Regierungschef seinen Verteidigungsminister und den Innenminister Moreira Baptista, der einen Nervenzusammenbruch erlitt. Die Verantwortung für die berüchtigte PIDE, die Geheimpolizei, hatte dagegen seine Nerven nie belastet.

Die Volksmenge umringt das Fahrzeug, Faustschläge dröhnen gegen die Metallpanzerung - wie Schaufeln voll Erde, die auf einen Sarg prasseln, empfindet es ein Augenzeuge - und immer wieder die Rufe "Mörder!". Anschließend schlägt der Zorn wieder in Begeisterung und Jubel um. Jetzt ist der gemeinsame Triumphzug von MFA und Volksmassen zurück zur Baixa noch gewaltiger und gelöster als am Morgen.

Morte à PIDE
Noch aber existierten die Festungen der Folterknechte von der PIDE/DGS, der berüchtigten, nach Gestapo-Methoden arbeitenden Geheimpolizei. Während die Siegesfeier nach der Übergabe vom Carmo noch andauerte, bewegten sich Hunderte entschlossener Demonstranten zur Kommando- und Verwaltungszentrale der PIDE in der Rua António Maria Cardoso südlich des Bairro Alto. Als sie mit dem Ruf "Morte à PIDE" (Tod der PIDE) das Gebäude belagerten, fielen die ersten und die letzten gezielten Schüsse, abgefeuert von denen, die ihre Existenz nur innerhalb des zusammenbrechenden Systems sehen konnten. Vier Tote und zahlreiche Verletzte: das war die letzte Tat des Folter- und Mordkommandos, dessen Verbrechen niemals gesühnt wurden.

Nach den blutigen Zwischenfällen erhielten die nur etwa 30 MFA-Soldaten in der Rua António Maria Cardoso militärische Verstärkung. Die Demonstranten wichen nicht etwa zurück, die meisten harrten die ganze Nacht hindurch aus. Die "Morte à PIDE" und "Assassinos" (Mörder)-Rufe klangen aus der Entfernung wie Gewehrsalven. Als die ersten Unterhändler der Geheimpolizei aus dem Gebäude traten, konnten sie von den MFA-Soldaten nur mit Mühe vor dem gerechten Volkszorn geschützt werden. Erst gegen 9 Uhr am 26.April ergab sich das letzte und hartnäckigste Machtinstrument der Diktatur.

Das Archiv, das genaue Informationen über dem Regime verdächtige oder gefährliche Personen enthielt, fiel - bis auf einige in der Nacht verbrannte Akten - den Belagerern ebenso in die Hände wie ein modernes Waffenlager und die Folterinstrumente.

Neben der Tafel mit dem Straßennamen "Rua António Maria Cardoso" brachten Antifaschisten ein zweites Schild an: "Avenida dos Mortos pela PIDE", was sich sowohl auf die Opfer vom Vorabend bezog als auch auf die zahlreichen Ermordeten von dem oppositionellen General Humberto Delgado (er wurde 1965 bei Badajoz/Spanien von der PIDE ermordet) bis zu mutigen Antifaschisten oder Kommunisten aus dem Volk.

Viele PIDE-Agenten und Informanten, die in Betrieben, Büros, in Universität und Schulen, Restaurants und Cafés "arbeiteten", wurden von der Bevölkerung aufgespürt. Der letzte Chef der Geheimpolizei, Major Silva Pais, wurde in seiner Wohnung verhaftet, während sich eine erregte Menge vor dem Haus versammelte.

Die Stunde der Befreiung für die politischen Gefangenen und die Widerstandskämpfer
Als sich die Tore des berüchtigten PIDE-Kerkers in Caxias (westlich Lissabon - Richtung Estoril) genau 48 Stunden nach der Sendung von "Grândola", also am 27.April, eine halbe Stunde nach Mitternacht, öffneten, müssen sich unbeschreibliche Szenen abgespielt haben. Die Befreiten, ihre Angehörigen und zahlreiche Freunde fielen sich in die Arme, lachten und weinten gleichzeitig. Monate, vielfach Jahre der Isolation, Folter und Schikane waren zu Ende. Ihre "Verbrechen" waren politische Meinungsäußerungen und Aktivitäten gegen ein Regime, das die Menschen- und Bürgerrechte mißachtete und unterdrückte. Ein ordentliches Gerichtsverfahren wurde den "Politischen" nicht zugestanden.

Stellvertretend für alle anderen sei an dieser Stelle Hermínio da Palma Inácio erwähnt. Die antifaschistische Abendzeitung ,,República" hat am 27.April das Bild von Palma Inácio veröffentlicht, wie er nach Verlassen der Zelle in einer Gebärde der Freude und des Triumphs beide Arme emporreckt, die Freiheit und die Freunde grüßend. Der Gründer der aktiven antifaschistischen Widerstandsgruppe LUAR (Liga für revolutionäre Einheit und Aktion) war einer der kühnsten, populärsten und vom Regime gefürchtetsten Widerstandskämpfer.

1961 gelang ihm die erste Flugzeugentführung. Er ließ die Maschine der portugiesischen Fluggesellschaft TAP über Lissabon kreisen, um antifaschistische Flugblätter abzuwerfen. 1967 überfiel er mit seiner Organisation die Bank von Portugal in Figueira da Foz (Fischerhafen und Seebad bei Coimbra). Dabei erbeutete die LUAR nicht weniger als 30 Millionen Escudos, das waren rund 3.750.000 DM, die der ehemalige Luftwaffenoffizier Palma Inácio mit einem Propellerflugzeug über die Grenze schaffte. Offensichtlich wegen dieser Tat erklärte ihn Juntachef Spínola zu einem gewöhnlichen Straftäter und wollte seine Freilassung verhindern. Palma Inácio war mehrfach eingekerkert und fast immer wieder entflohen. Zuletzt war er 1973 gefaßt und in Caxias in Isolationshaft gehalten worden.

Rückkehr der Verbannten

Wir kehren zurück im Mai
wenn die Stadt sich kleidet mit Verliebten
und die Freiheit das Gesicht der Stadt sein wird

(Manuel Alegre)

In der letzten Aprilwoche, noch vor dem 1.Mai, kehrten die Führer der Sozialistischen Partei (PS) und der Kommunistischen Partei (PCP), Mário Soares bzw. Álvaro Cunhal, nach Portugal zurück. Der erstere kam - nach mehrjährigem Exil, unter anderem auf der portugiesischen Südatlantikinsel São Tomé - aus Paris, seinem letzten Aufenthaltsort als Verbannter. Cunhal, der 13 Jahre in PIDE-Kerkern verbringen mußte, bis ihm 1960 die Flucht aus Peniche gelang, hatte seitdem in Moskau und Prag gelebt.

Beider Empfänge, inmitten Tausender Freunde und Anhänger mit Spruchbändern, Fahnen und roten Nelken, standen völlig im Zeichen des Wiedersehens, der Freude, aber auch der Wehmut und des Schmerzes über die, welche die "lange Nacht der 48 Jahre" (Soares) nicht überlebten und die "Sonne der Freiheit nicht sahen" (Cunhal).

Außer ihnen kehrten viele bedeutende Vertreter der antifaschistischen Intelligenz heim, auf deren Beitrag die portugiesische Gesellschaft jahrzehntelang verzichten mußte. Genannt seien drei, die in den ersten Maitagen eintrafen. Aus dem brasilianischen Exil, wo er seit 1958 lebte, kam der bekannte Mathematiker und republikanische Präsidentschaftskandidat von 1951, Rui Luís Gomes. Als er 1972 in die Heimat reisen wollte, also nach Verkündigung des politischen Frühlings durch Caetano 1968, hinderte ihn die Geheimpolizei am Verlassen des Flughafens in Lissabon und schickte ihn zurück ins Exil. - Scharfsinnig erkannte er in der Kolonialfrage die Ursache des Umsturzes. "Portugal kann nicht auf eine wahrhafte Demokratie zusteuern, solange es in der Stellung eines Kolonialistenvolkes verharrt."

Aus Algerien kamen zwei bekannte und tatkräftige Widerstandskämpfer, Fernando Piteira Santos und der Dichter Manuel Alegre, die die Patriotische Front für Nationale Befreiung (FPLN) mitbegründet und über den Freiheitssender "Voz da Liberdade" (Stimme der Freiheit) die Antifaschisten in der Heimat ermutigt hatten. Sie erblickten im 25.April einen der bedeutendsten Wendepunkte der portugiesischen Geschichte seit 1383. (Damals hatte die erste bürgerlich-nationale Revolution Europas den portugiesischen Nationalstaat geschaffen, gegen die herrschende Dynastie und den Hochadel im Innern sowie den Hegemonieanspruch Kastiliens.) Beide unterstrichen die Notwendigkeit der Einheit von MFA, Volk und den linken Kräften sowie die Lösung der Kolonialfrage im fortschrittlichen Geist.

Unter der Menge, die zu ihrer Begrüßung erschienen war, zirkulierten BIätter mit Gedichtauszügen von Manuel Alegre, die meist im Gefängnis oder im Exil entstanden waren, viele von José Afonso und anderen vertont und bei Studenten beliebt.

"Sofortiges Ende des Kolonialkrieges - Generalamnestie für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer" lauteten die Kundgebungsparolen von Vereinigungen, die für rund 100.000 Fahnenflüchtige und Kriegsdienstverweigerer sprachen. Sie hatten das Exil der Teilnahme an einem ungerechten Krieg vorgezogen. Das Amnestiegesetz wurde am 1.Mai 1974 erlassen, das Ende des Krieges ließ noch auf sich warten, doch erste Schritte waren eingeleitet.

Das Ende von Furcht und Zensur
In meinem Land gibt es in verbotenes Wort.
Tausendmal haben sie es gefesselt, tausendmal wuchs es auf.
Und es schlägt in uns wie der Herzschlag des eigenen Lebens
Es schmeckt nach dem Salz dieses Meeres, hat die Farbe dieses Himmels
In meinem Land gibt es ein verbotenes Wort.

Manuel Alegre

Während der regierungsamtliche "Diário de Notícias" am Tage der Befreiung die Geschehnisse nur vorsichtig andeutete und ein Telefoto aus London (!) mit den aufständischen Truppen auf der Praça do Comércio brachte, überschrieb die antifaschistische "República" ihren Leitartikel mit dem programmatischen Titel: "Für das Volk und seine Freiheiten"; ebenfalls im Fettdruck und auf der ersten Seite hieß es:,,Diese Zeitung wurde von keinerlei Zensurkommission kontrolliert."

Die Menschen rissen den Zeitungsverkäufern auf der Straße die erste Auflage des Blattes aus der Hand, und auch die zweite war nicht lange auf dem Markt. Diese Reaktionen drückten die oft explosive Begeisterung aus, in der sich die lange gestauten Gefühle und unterdrückten Gedanken jetzt äußerten, zum ersten Mal unbewacht von Geheimpolizei und Zensur. Am Nachmittag des 26.April zog ein Demonstrationszug vor das "República"-Haus und dankte der Redaktion durch das Singen der Nationalhymne für ihren unermüdlichen Kampf um Meinungs- und Pressefreiheit.

Vor dem 25.April waren politische Themen und Gespräche Tabu, ausgenommen innerhalb der eigenen vier Wände und im Kreis vertrauter Personen. Auf der Straße, im Laden, in Café und Kneipe wagte man nur sicheren Freunden gegenüber ein offenes Wort, jedoch nie ohne sich nach allen Seiten umzublicken und die Stimme zu senken.

Wie willkürlich und in welchem Ausmaß der berüchtigte Blaustift des Zensors gewirkt hatte, zeigten über Wochen hin die nachträglichen Veröffentlichungen von zensierten Zeitungsartikeln. Für die anderen Massenmedien, für Bücher und Lieder galt dasselbe. Die Zensur unterdrückte oder verstümmelte Informationen, Berichte, Reportagen in Bild und Wort, und zwar sowohl im Zusammenhang mit dem eigenen Kolonialkrieg als auch zum Beispiel dem Vietnamkrieg. In bezug auf die Innenpolitik wurden grundsätzlich alle oppositionellen und kritischen Stimmen unterdrückt, die dem System und seinen Machthabern gefährlich oder bloß unsympathisch schienen. Es sind Fälle bekannt, in denen Sportzeitungen unter die Zensur fielen, weil sie Kritik an Schiedsrichterentscheidungen geübt hatten. Das Rütteln am Prinzip der Autorität, gleich in welcher Form, mußte im Keim erstickt werden.

Der Schere oder zumindest dem Filter der Zensur entgingen keine Information, kein Bericht, die das Elend und die Armut der Barackenviertel oder isolierter Dörfer zum Gegenstand hatten. Eine Provinzzeitung in der Beira Baixa durfte einen völlig unpolitischen Artikel nicht veröffentlichen: die Verfasser waren zwei Ärzte, die über eine in der Gegend verbreitete Kropfkrankheit informieren und aufklären wollten. Besonders empfindlich reagierten die Zensoren auf Nachrichten über die Arbeiter- und Studentenbewegung. Die Bildung freier Gewerkschaften und nicht kontrollierter Studentenbünde wurde strafrechtlich verfolgt. Selbst Berichte über gewöhnliche Verbrechen, vom Diebstahl, Einbruch und Betrug bis zum Mord und Selbstmord fielen dem Blaustift zum Opfer. Die Fassade einer sicher geführten, ordentlichen und christlichen Gesellschaft duldete keine Mißtöne.

Wenn heute viele politisch weniger bewußte Leute - subjektiv ehrlich - auf die im Grunde "gute alte Zeit" verweisen, in der es "das alles nicht gab", so ist das nichts anderes als eine Fernwirkung der Zensur. Über die Ära Salazar urteilt Fritz René Allemann: "ln den letzten Jahren der Regierungszeit Salazars hatte die Gleichschaltung der portugiesischen Presse ein Maß erreicht, das nur noch jenseits des Eisernen Vorhangs seinesgleichen fand."

Eine Art Quinta: Die Gesellschaftsform der Diktatur
Von den zwei wesentlichen Machtinstrumenten her, Geheimpolizei und Zensur, Iäßt sich das System der Diktatur, besonders unter Salazar, am besten durchleuchten. Die Kälte, Distanz, Unerbittlichkeit und Menschenferne des Junggesellen Salazar, dem portugiesischen Charakter widersprechende Züge, haben immer wieder den Vergleich mit dem Typus des kastilischen Inquisitors oder mit Calvin hervorgerufen.

Wie auch Mário Soares veranschaulicht hat, wäre die ideale Form für die portugiesische Gesellschaft im Sinne Salazars eine Art Quinta, das heißt ein gegen äußere Einflüsse abgeschlossenes Landgut. Innerhalb dieser statisch-geschlossenen, paternalistischen Gesellschaft sollte die nach Geburt und Besitz einflußreiche Klasse herrschen, die der Diktator respektierte und der er diente wie der Verwalter eines adeligen Herrenhauses, allerdings nach seinen Vorstellungen und mit seinen Mitteln. Von hier aus werden auch seine Hemmungen und starrsinnigen Einwände verständlich gegen moderne Entwicklungen wie Industrialisierung, Tourismus, Bildungsreform (die vierjährige Grundschule für das "arme, aber gute, einfältige Volk" verstand er als Zugeständnis!). Seine repressiven Herrschaftsinstrumente dienten der Durchsetzung der ultrakonservativen Ideologie.

So hielt das Regime, der sogenannte "Estado Novo" (Neuer Staat), das Volk bewußt in Armut und Unwissenheit (unter Salazar noch über ein Drittel Analphabeten). Der Intelligenz blieb nur die äußere oder innere Emigration: "als ob man in seinem eigenen Land verbannt sei", wie es der einzige portugiesische Nobelpreisträger, der Arzt Egas Moniz, ausgedrückt hat. Mit ihrer starren Kolonialpolitik, besonders seit 1961, isolierte sich die Diktatur auch außenpolitisch: "stolz allein - orgulhosamente sós", hieß die Propagandaparole, über die der getreue Nachlaßverwalter Caetano schließlich stolperte.

Die Herrschaft der Roten Nelke - Der 1.Mai 1974 im befreiten Lissabon
(niedergeschrieben am 1. und 2.Mai 1974 in Lissabon)

Soldaten säumen die Straßen, meist junge Jahrgänge. Sie geben sich heiter, froh, ausgelassen, keiner ist ohne rote Nelke. Die zum Schutz der ersten freien Maikundgebung abkommandierten jungen Infanteristen und Marinesoldaten stecken sie auf die Gewehrläufe. Die rote Nelke ist Symbol der neuen Freiheit und Sinnbild der Einheit, auch zwischen Zivilisten und Uniformierten.

Die Straße gehört dem Volk. Es artikuliert sich ungezwungen, seiner Natur, seinem Instinkt, seiner Phantasie entsprechend, aber auch die gestauten Gefühle wie Zorn und Aggression äußernd. Der Demonstrationszug gleicht einer Mischung aus Volksfest und politischer Manifestation. Die programmierten Transparente der Parteien und Gewerkschaften und die improvisierten Spruchbänder bilden eine kaum unterscheidbare Mischung.

"Livres do Fascismo - lutemos por um Portugal melhor" (Frei vom Faschismus - kämpfen wir für ein besseres Portugal!) - "Pão - Paz - Liberdade" (Brot - Friede - Freiheit) - "Forca à Pide" (Den Galgen für die Pide) - "Fim à Guerra Colonial - Regresso dos Soldados" (Schluß mit dem Kolonialkrieg - Heimkehr der Soldaten) - "Luta pelo direito à greve" (Kampf fürs Streikrecht) - "Sindicatos saudam filhos do povo armado" (Gewerkschaften grüßen Söhne des bewaffneten Volkes) - "As nossas armas são as flores" (Unsere Waffen sind die Blumen).- Zielstrebig, doch ohne Hast und Eile bewegt sich der kilometerlange Zug zum Stadion von Alvalade im Norden der Stadt.

Vom Tribünendach hängt weit sichtbar ein Transparent mit dem neuen, seit heute gültigen Namen der Sportstätte: "Estádio 1º de Maio". Das gefüllte Stadion (auch der Rasen ist dicht besetzt) wirkt wie ein riesiges impressionistisches Gemälde: Fahnen und Fähnchen (grün-rote, aber auch rote, zum Teil mit Hammer und Sichel), ein Meer von Transparenten und Blumen, eine bunt wogende Menge, darunter viele Familien mit großen und kleinen Kindern, die nicht fehlen dürfen. Alle fügen sich spontan ein in die große Familie des portugiesischen Volkes, das seine Befreiung feiert. Innerhalb des Stadions befinden sich weit über 100.000, vor den Toren warten Tausende auf Einlaß. Nach Schätzungen waren an diesem ersten Mai eine halbe Million Lissaboner auf den Beinen.

Nach 17 Uhr beginnt die Kundgebung mit der Nationalhymne. Anschließend singen die Massen, indem sie mit den Fingern der erhobenen Hand das Vitória-Zeichen bilden: "Grândola, vila morena, terra da fraternidade." Nach den Gewerkschaftlern ergreifen prominente Politiker das Wort: Pereira de Moura von der CDE (Comissão Democrática Eleitoral, der wichtigsten oppositionellen Wählervereinigung unter dem vergangenen Regime), Mário Soares, Führer der Sozialistischen Partei, und Álvaro Cunhal, der KP-Chef. Demonstrativ haben diese beiden das Stadion gemeinsam betreten. Sie werden nicht nur von Parteianhängern mit Applaus überschüttet.

Mário Soares sieht den Lohn der Leiden im Erleben dieses Tages. Nach Anerkennung der historischen Leistung der Armee vom 25.April betont er unter dem Jubel der Menge: "Hier und heute haben wir den Faschismus endgültig besiegt. Dieser Sieg ist der Sieg des Volkes." Er richtet Grußadressen an die Gewerkschaften und die Armee. Ergreifend wirkt seine Verneigung vor der imposanten Erscheinung des Kommunistenführers Cunhal, dessen Martyrium er besonders würdigt. Er betont zu Recht, daß die KP die meisten Opfer bringen mußte.

Schließlich verlangen Soares wie Cunhal eine Regierung von der Mitte über die Sozialisten bis zu den Kommunisten. "Unidade" (Einheit) ist die Parole der Stunde, einschließlich der Armeebewegung. Sobald Cunhal und auch Soares mit den Worten "Viva o socialismo! Viva Portugal!" schließen, bricht die Menge wie nach jeder Rede in den Ruf aus, in dem sich die lange gestauten Emotionen entladen: "O povo unido / jamais será vencido" (Das einige Volk wird niemals besiegt werden). Der triumphale Schlachtruf wird peitschenhiebartig skandiert: die klangvollen Endvokale entfallen und geben ihm einen zugleich faszinierenden und unheimlichen Rhythmus, unterstrichen von Zehntausenden emporschnellender Hände, die das V-Zeichen bilden.

Die Lissaboner waren sich einig. Nie hatten sie eine solche politische Feier erlebt. Alle betonten den Unterschied zu den dirigierten Aufmärschen der Diktatur, die ihr System gern mit der politischen Unreife des Volkes gerechtfertigt hatte und an diesem Tag überzeugend widerlegt wurde. Ein Exilportugiese äußerte unter Freudentränen: "Dies war schöner und glanzvoller als die Befreiung von Paris (1944), die ich miterlebt habe."

Mit Recht hat man den 1.Mai 1974 den "25.April des Volkes" genannt. Bürger, Angestellte, Intellektuelle nahmen genauso teil wie die Arbeiterschaft, besonders vom Industrierevier am südlichen Tejoufer, und Vertretungen von Landarbeitern. Den Kern der Volksmassen bildeten sicher die Arbeiter, deren fröhliche wie kämpferische Haltung alle anderen ansteckte. Ihre Teilnahme war zugleich spontan und organisiert von der Intersindical, den Gewerkschaften. Diese hatten die vorsichtige Öffnung des Regimes nach Salazar (seit 1968/69) genutzt, die sogenannten korporativen, das heißt nach Berufsständen organisierten Scheingewerkschaften zu erobern. Allen späteren Repressionen des scheinliberalen Regimes Caetano hatten die meist kommunistischen Gewerkschaftsfunktionäre unter großen persönlichen und materiellen Opfern (einschließlich Entlassung und Folter) durch eine wirkungsvolle Untergrundarbeit Widerstand geleistet. Außerdem gelang es ihnen, die Diktatur durch eine Kette von Streiks, besonders in den letzten Jahren, zu schwächen.

Nur der instinktive Klassenhaß der Arbeiter gegen das Bündnis von Staat, Kapital und (Geheim-) Polizei einerseits und ihr Vertrauen in die zu jedem Opfer bereiten Funktionäre erklären die erstaunliche Mobilisierungsfähigkeit vom 1.Mai durch 30 Einzelgewerkschaften. So wurde die politische Maifeier die eindeutige Antwort, das Ja der arbeitenden Bevölkerung zur Tat des MFA vom 25.April. Der militärische Staatsstreich hatte, im Gegensatz zu lateinamerikanischen Vorbildern, seine revolutionäre Legitimation erhalten.





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Portugal-Post Nr. 6 / 1999


Freudenszenen in der Baixa