.
  Wir über uns    Mitglied werden    Kontakt   


Der mit den Kühen tanzt
oder: Die Wahnsinnsrinder des Gerês

As vacas loucas do Gerês Ou seja: É preciso ter vaca

Von Peter Koj

Mussten Sie schon einmal eine versprengte Kuhherde zusammentreiben? Und zwar auf portugiesisch und zudem in einem unwegsamen Gelände auf über 1000m Höhe? Solche Wahnsinnsdinge passieren einem halt, wenn man wie ich im letzten Sommer Urlaub am Osthang des Gerês verbringt, genauer gesagt in Sirvozelo.

Die Kühe sind das einzige Vieh, das in dieser Gegend noch intensiv aufgezogen wird, während Schweine, Schafe und Ziegen fast völlig von der Bildfläche verschwunden sind. Die Kühe werden aus ihren Ställen, die sich traditionell direkt unter den Wohnräumen der Bauern befinden (wegen der Wärme im Winter!) jeden Morgen bei Anbruch des Tages auf die umliegenden Feuchtwiesen (lameiros, lamas) getrieben. Dann erfüllt Glockengeläut und die mehr oder weniger melodischen Rufe (pregões), mit denen die Kühe angetrieben werden, die kleinen Dörfer mit ihren urtümlichen Granithäusern rund um den Stausee von Paradela.

Als der Stausee Ende der 50er Jahre gebaut wurde und die Wassermassen wertvolles Land überfluteten, wurden die Weideplätze auf einmal knapp. Seit der Zeit treiben die Bauern der Ortschaften Pitões, Sirvozelo, Sela, Outeiro, Parada und Paradela einen Teil ihres Rindviehs auf die Hochfläche oberhalb des Stausees. Dies ist ein riesiges Gebiet, das sich zwischen dem Stausee von Paradela und der spanischen Grenze bis hin zu den Minas de Carris und den höchsten Erhebungen des Gerês, dem Altar de Cabrões (1538m) und der Nevosa (1545m), erstreckt.

Aus dem ehemals waldreichen Areal hat der Mensch im Laufe der Jahrhunderte eine völlig verkarstete Landschaft geschaffen, rau und schroff in ihrer granitenen Majestät. Die Vegetation wird jetzt bestimmt durch Stechginster (tojo), Besenginster (giesta) und einer dritten Ginsterart, die man in Portugal carqueja nennt, dazu Farn (feto) und Heidekraut (urze). Nur am Rand der Bäche haben sich grüne Oasen mit üppigerer Vegetation und auch Bäumen gehalten. Doch diese sind immer wieder gefährdet, weil die Hirten das Unterholz (matagal) anzünden, wenn es sich zu üppig entwickelt. Die zart nachwachsenden Pflanzen sind dann wieder als Nahrung für das weidende Vieh geeignet.

Der Aufstieg in dieses Gebiet ist mühsam und zeitraubend. So können die Kühe natürlich nicht am selben Tag zurück in den heimischen Stall, sondern bleiben Wochen und Monate sich selbst überlassen. Gelegentlich steigt ein Dorfbewohner hinauf, um nach dem rechten zu sehen. Im Falle der Kühe von Sirvozelo und Sela ist dies Domingos. Er selbst besitzt keinen eigenen Hof, und so hilft er den Bauern der Region bei der Erntearbeit und kümmert sich gegen ein kleines Entgelt um deren Kühe. So kennt keiner das unwegsame Gelände besser als Domingos, eine Tatsache, von der ich schon bei meiner ersten Durchquerung des Hochplateaus (1979) profitierte. Domingos geleitete unsere kleine Wandergruppe damals bis zu den Minas de Carris (nachzulesen in meinem Bericht "Das Wandern ist des Portugiesen (Un)Lust" im Rundschreiben 2 der PHG). Nun war es mal wieder so weit. Domingos war seit drei Wochen nicht mehr oben gewesen, und es hätte inzwischen alles Mögliche passiert sein können: die Kühe hätten sich mit den Herden anderer Ortschaften verbrüdern oder besser gesagt: verschwestern können und gemeinsam mit ihnen in andere Weidegründe abziehen können - übrigens ohne Rücksicht auf die spanische Grenze. Es hätte auch eine Kuh vom Wolf gerissen sein können. In diesem Fall springt - seit 1971, als dieses Gebiet zum Nationalpark erklärt wurde, die Parkverwaltung mit einer Entschädigung ein. Domingos lud mich ein, ihn zu begleiten, und so machten wir uns eines frühen Sonntagmorgens auf den Weg.

Mit von der Partie waren die beiden Hunde von Domingos: Joli, ein schon etwas gesetzter und erfahrener Hirtenhund, und Nero, ein putziger und verspielter rafeiro (Mischling), eher einem langbeinigen Fuchs ähnelnd und nicht viel mehr als ein halbes Jahr alt. Der Aufstieg von Sela ist weniger steil als von Sirvozelo aus. So kamen wir bald an dem Prachtkerl von einem Steinmännchen (mariola) an, den ich schon seit meiner ersten Wanderung von 1979 kannte. Domingos brach einen Zweig von einem Heidebusch ab und legte ihn unter einen Stein, als Zeichen für die Hirten der anderen Ortschaften, die gewöhnlich am Sonntag aufsteigen.

Allmählich wurde die Sonne kräftiger, doch mit dem Aufstieg auf das Plateau schien das Schlimmste bereits bewältigt zu sein. Der Rest konnte eigentlich nur noch ein Kinderspiel sein. Einen ersten Dämpfer erhielt mein Optimismus, als wir an dem üblichen Weideplatz von Domingos' schutzbefohlenen Rindern ankamen: keine Kuh weit und breit! Nur vertrocknete Kotfladen, d.h. dass die Damen sich schon vor längerer Zeit getrollt hatten. Also verließen wir den Trampelpfad (trilho), der zu den Minas führt und schlugen einen großen Bogen in Richtung Nordosten ein.

Nach einstündiger Suche auf unwegsamen, gerölligem Gelände und unter stechender Sonne entdeckten wir schließlich frische Fuß- und Kotspuren von Kühen. Domingos stieß einen gewaltigen Brüller aus, der gleich erwidert wurde. Es war aber nicht das Echo, sondern die Antwort kam von einem jungen Bauern, der hoch zu Ross aus Outeiro aufgestiegen war und sich im Schatten eines der seltenen Bäume niedergelassen hatte. Nicht weit von ihm graste friedlich eine Herde von dreißig Barroso-Rindern (typische Kennzeichen: braun-gelbe Färbung, kleiner Kopf, riesige Hörner). Doch leider waren es die falschen, nämlich die aus Outeiro.

Wir trösteten uns damit, dass wir uns zu dem Bauern aus Outeiro setzten und uns unserem mitgebrachten Proviant (farnel) widmeten. Er bestand aus einer bucha (gebratenes Fleisch, geräucherter Schinken und broa, Maisbrot) durchspült von einem roten Krätzer (carrascão) aus Domingos' Lederflasche (botija). Danach ging es weiter in Richtung Nordosten zum Foralinho, einem beliebten Weideplatz an einem Bach. Als wir dort nach einer knappen Stunde ankamen, trafen wir in der Tat auf eine große Viehherde. Doch Domingos' Gesicht wurde immer länger: in der Herde befanden sich nur einige seiner Schützlinge. Die meisten kamen aus anderen Ortschaften (Parada, Pitões). Ja, es hatten sich sogar einige Damen aus Spanien dazwischengemischt, die sich schon äußerlich von ihren portugiesischen Artgenossinnen unterschieden: sie hatten ein weißes Fell und kurze schwarze Hörner.

Wir legten uns erst einmal in den Schatten und schauten dem friedlichen pan-iberischen Treiben zu. Als wir uns nach einer Weile wieder auf den Weg machten, blieb Joli einfach im Schatten liegen. Er wusste, was die Stunde geschlagen hatte: der unerbittliche Aufstieg zur spanischen Grenze (raia), wohin es die portugiesischen Rinder gelegentlich zieht Erst nach einer ganzen Weile gesellte er sich wieder zu uns, als wir schon fast an dem groben Granitkreuz angekommen waren, das einst zum Gedenken an einen portugiesischen Schmuggler errichtet wurde, der an dieser Stelle vom Schnee überrascht worden und erfroren war.

Nach einer guten halben Stunde mühsamen Aufstiegs in einer Geländefalte mit wild wuchernder Vegetation das sanfte Läuten einer Kuhglocke, nach all den Strapazen sehnlicher erwartet und freudiger begrüßt als das Läuten, mit dem wir Kinder vom Christkind (oder waren es unsere Eltern?) zu dem leuchtenden Weihnachtsbaum und unseren Geschenken gerufen wurden. Als wir näher kamen, beäugten drei Damen aus Sirvozelo uns voll unschuldiger Neugierde. Von all den anderen: keine Spur (nem rasto). Es half also alles nichts: weiter ging's bergauf in der sengenden Hitze.

Und direkt auf dem Kamm, der die portugiesisch-spanische Grenze bildet und der uns einen atemberaubenden Blick auf Spanien bot, graste friedlich der übrige Verein. Aber waren es wirklich alle?

Ich zählte 18 Rinder, ohne die drei meninas aus Sirvozelo. Aber diese Zahlenangaben nützten Domingos wenig. Ich vermute, dass er gar nicht so weit zählen kann (er konnte mir z.B. auch nicht sagen, wie alt er ist). Statt dessen schaute er sich die Kühe, deren Namen und besondere Merkmale er genau kannte, einzeln an. Dabei kam er zu dem Schluss, dass noch zwei Kühe fehlten. Er vermutete, dass die beiden in das unter uns liegende spanische Tal abgewandert waren. Es stellte sich die Frage, ob er ihnen nachsteigen sollte, während ich bei den anderen 21 bleiben sollte.

Während wir noch überlegten, wurde uns die Entscheidung "höheren Orts" abgenommen. Innerhalb weniger Minuten zog ein Gewitter auf. Aus den schwarzen Wolken, die sich direkt über unseren Köpfen zusammenbrauten, zuckten grelle Blitze, und ein ohrenbetäubender Donner ließ die Erde erbeben. Dann brach ein wüster Platzregen los, der uns bis auf die Knochen durchnässte. Nun gab es nur die eine Devise: Abstieg! Domingos überließ mir die 18köpfige Herde, damit er die drei meninas aus Sirvozelo einfangen konnte, um sie "meiner" Herde weiter unten zuzuführen.

Nun, da stand ich vor 18 ausgewachsenen Rindviechern (darunter zu allem Unglück auch noch ein Stier!), die mich Fremdling mit ihren großen, langbewimperten Augen verständnislos anglotzten. Und ich sagte nir: Peter, bangemachen gilt nicht! Als Hamburger Lehrer bist du schon mit ganz anderen Klassenfrequenzen fertig geworden. Blieb nur das Problem der Kommunikation, d.h. würde mein Portugiesisch ausreichen, um mich verständlich zu machen. Zum Glück lagen bereits 14 Tage Urlaub in Sirvozelo hinter mir, in denen ich jeden Morgen und Abend die pregões der Bauern des Dorfes gehört hatte.

Diese bestehen aus einem aufmunternden "anda!", zu dem sich, je nach Geschlecht des Tieres, eine Form von "vaca" (Kuh) bzw. "boi" (Ochse) gesellt, die mich entfernt an den lateinischen Vokativ, also die Anredeform, erinnert: "vaquê" und "boiê", d.h. beide enden auf ein langgezogenes, melodiöses "e". Darunter mischten ich einfach ein paar gutturale Brüller internationalen Zuschnitts ... und es funktionierte! Ganz langsam setzte sich die Herde in Trab, wirkte allerdings noch immer etwas verstört. Vielleicht wegen meines deutschen Akzents; aus Eitelkeit würde ich eher sagen: wegen des fürchterlichen Gewittters.

Irgendwann kam Hilfe von rechts: Klein-Nero war Domingos vorausgeeilt und trieb nun die Herde mit fröhlichem Gekläffe an. Sicher wird er eines Tages ein ganz Großer seiner Zunft! Bald kam auch Domingos dazu und übernahm das Kommando. Nun hatte ich auch mehr Muße, den Almabtrieb à portuguesa zu beobachten. Für mich war vor allem faszinierend, wie geschickt und behende diese äußerlich so schwerfällig wirkenden Tiere mit dem gerölligen und teilweise steil abfallenden Gelände fertig wurden und sich selbst durch den prasselnden Regen nicht aus der Ruhe bringen ließen.

Am Foralinho führte Domingos die beiden Herden zusammen und pickte sich eine der Kühe heraus, deren Besitzer sie im heimischen Stall haben wollte. Anfangs sträubte sie sich gegen die Trennung von der Herde, doch dann trabte sie ganz zufrieden los, wir vier etwas weniger zufrieden hinter ihr her. Inzwischen war nämlich die Sonne wieder durchgebrochen, und die Hitze zurückgekehrt. Die Kuh focht dies alles nicht an: zielsicher strebte sie dem heimischen Stall zu. Nur einmal, in einem unübersichtlichen Farnhain, verlor sie die Übersicht und mußte von Domingos wieder auf den richtigen Pfad gebracht werden.

Die Gründe für den Unmut unseres vierköpfigen Trosses waren sehr unterschiedlicher Art. Joli dauerte der ca dreistündige Abstieg viel zu lange und eilte uns weit voraus. Nero hingegen legte sich immer wieder demonstrativ in ein schattiges Plätzchen, als wenn er sagen wollte: Jungs, jetzt reicht's aber langsam! Domingos schaute gelegentlich sorgenvoll zurück in Richtung Minas, wo ein Helikopter über die Berggipfel brummte. Die Erklärung lieferte mir später Sr. Dinis, Besitzer der Pension Dom Dinis und Mitarbeiter der Parkverwaltung. Der Hubschrauber war von spanischer Seite eingesetzt, um eventuelle Brandstifter in flagranti zu erwischen.

Domingos gehört zu den Übeltätern, die das Verbot der Parkverwaltung systematisch unterlaufen. Leider hat man sich damals bei der Einrichtung des Nationlparks taktisch unklug verhalten und die Bevölkerung nicht über die Folgen der Brände (fogos postos) aufgeklärt. Hinzu kommt, dass die Landwirte außerhalb des Nationalparks das Recht haben, sogenannte fogos controlados zu legen. Dabei übersieht der portugiesische Gesetzgeber in seiner vermeintlichen Liberalität, dass der Begriff fogo controlado schon ein Widerspruch in sich ist. Und so vernichten jedes Jahr außer Kontrolle geratene Brände weite Waldflächen und Naturlandschaften, so dass das einstmal so grüne Portugal zu einer Steinwüste zu verkommen droht.

Meine Sorgen waren mehr persönlicher Natur, aber deswegen nicht weniger belastend. Ich hatte mir aus Deutschland keine Wander- oder Bergsteigerhose mitgebracht. Und meine Jeans hätten nicht genug Beinfreiheit für die Kletterei gegeben. So hatte ich eine kurze Hose angezogen, ein Fehler, den ich bald bitter bereuen sollte. Der Stechginster malträtierte meine Unterschenkel im wahrsten Sinne bis aufs Blut und verursachte bei jedem Schritt einen höllischen Schmerz. Als wir nach ca 10 Stunden glücklich aber erschöpft in Sela eintrafen, trottete die Kuh fröhlich auf ihre Feuchtwiese, während Hund und Mensch ins kühle Haus schlichen, ohne einen Mucks von sich zu geben (sem tugir nem mugir). Domingos soll zum Erstaunen der übrigen Dorfbewohner am nächsten Morgen erst lange nach dem Sonnenaufgang aus den Federn gekrochen sein, während mich meine Knochen noch tagelang an eine Tour erinnerten, von der Marlboro-Fans nur träumen können.





| Seitenanfang |





Impressum         Disclaimer
.
Portugal-Post Nr. 1 / 1998


"Mein" Stier




Domingos mit Joli und Nero an der spanischen Grenze




Brotzeit mit Nero