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ESSA NOSSA DITOSA LÍNGUA XI
Português ou Brasileiro?

Von Peter Koj

Die Frage nach der Landessprache des größten und mit ca 160 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Staates Südamerikas ist – so sollte man meinen – schnell beantwortet. Sieht man mal von einigen eingefleischten Hispano-Fans ab, die auf Spanisch tippen, ist sich alle Welt einig: in Brasilien spricht man portugiesisch.

Alle Welt? Nicht ganz! Da gibt es eine qualifizierte Minderheit, vor allem in Brasilien selbst, die das heimische Idiom als „brasilianisch“ bezeichnet. So wie manche Nordamerikaner von sich behaupten, sie würden nicht „englisch“ sondern „amerikanisch“ sprechen. Die politische Motivation solcher Äußerungen liegt auf der Hand: man will sich von den ehemaligen Kolonisatoren absetzen und seine Unabhängigkeit demonstrieren – auch auf sprachlichem Sektor.

Doch sind die Unterschiede so groß, dass eine Unterscheidung in „portugiesisch“ und „brasilianisch“ gerechtfertigt wäre? Fangen wir bei dem vordergründigsten der Kriterien an, der Aussprache. Hier gibt es in der Tat erhebliche Abweichungen, die zu Verständnisschwierigkeiten führen können. Wenn z.B. im Nordosten jemand eine „Hädschie“ verlangt, kommt man als Europäer nicht gleich darauf, dass es sich um ein Netz (rede) handelt. An diesem Wort können wir gleich drei Besonderheiten der brasilianischen Aussprache beobachten: in weiten Teilen Brasiliens wird das „r“ zu „h“ verhaucht oder gar nicht gesprochen (z.B. am Wortende). Das „d“ bzw „t“ wird vor „e“ oder „i“ zu „dsch“ bzw „tsch“. Und das in Portugal häufig gar nicht ausgesprochene „e“ der unbetonten Silbe wird in Brasilien zu „i“.

Dafür wird das auslautende, d.h. am Ende einer Silbe oder eines Wortes stehende „s“ bzw. „z“ wie ein scharfes bzw. weiches „s“ gesprochen und nicht gezischt (scharfes bzw weiches „sch“) wie in Portugal. Und das auslautende „l“ wird sogar wie „u“ ausgesprochen. So klingt der Name des Landes , um das sich alles in diesem Heft dreht, so ähnlich wie „Brasíu“ . Doch das sind alles Laute, an die sich das europäische Ohr schnell gewöhnt, selbst an die „übertriebene“ Nasalierung der Vokale und Diphthonge. Manche Portugiesischlernende empfinden die brasilianische Aussprache sogar als leichter, besonders weil hier das „o“ immer als „o“ ausgesprochen wird – und nicht wie in Portugal in bestimmten Fällen als „u“. Dasselbe gilt für die Vokale „a“ und „i“, die in Brasilien, unabhängig von ihrer Betonung, immer dieselbe Klangqualität haben.

Fazit: trotz einiger Abweichungen in der Aussprache kann hier nicht von einer eigenständigen Sprache die Rede sein. Zumal es starke regionale Unterschiede gibt. So ähnelt das Portugiesisch Südbrasiliens klanglich sehr viel mehr dem europäischen Portugiesisch. Und auch in Portugal selbst gibt es regionale Unterschiede. So wird das „s“ in Teilen Nordportugals nicht gezischt. Deswegen spricht man nicht gleich von einer anderen Sprache, sondern eher von „Dialekt“.

Kommen wir zu einem zweiten großen Kapitel, an dem man eine Unterscheidung zwischen „Portugiesisch“ und „Brasilianisch“ festmachen könnte, die sprachlichen Strukturen (Grammatik). Hier haben wir zuerst den immer wieder angeführten Unterschied zwischen Infinitiv (Portugal) und Gerundium (Brasilien). Also: in Portugal sagt man estou a fazer, wenn man im Moment gerade dabei ist, etwas zu tun. In Brasilien sagt man in diesem Fall estou fazendo. Doch diese angeblich typisch brasilianische Variante findet man schon im Algarve und auf den Inseln (Madeira, Azoren).

Bleibt also nur das Weglassen des Artikels in Brasilien bei Possessivpronomen (z.B. meu livro statt o meu livro) und bei Namen (Jorge statt o Jorge), sowie die Stellung der Personalpronomen. Hier ignorieren die Brasilianer auf sympathische Weise die äußerst komplizierten Regeln der portugiesischen Grammatik, die besagt, dass das Pronomen normalerweise hinter das Verb gestellt wird (z.B. vejo-o, ich sehe ihn), es sei denn der Satz wird verneint (não o vejo), hat ein Fragewort (quando o vejo?) etc etc etc. Der Brasilianer stellt das Pronomen dorthin, wo es ihm gerade passt oder es am besten klingt.

Dadurch vermeidet er auch die gefürchtete und nicht von allen Portugiesen beherrschte forma analítica, d.h. wenn das Verb im Futur oder im Konditional steht, muss das (eigentlich nachgestellte) Pronomen zwischen Stamm und Endung geschoben werden, wobei vor o, os, a, as das „r“ zugunsten eines „l“ entfällt: fá-lo-ei statt farei-o, ich werde es machen. Natália von Rahden in ihrem ansonsten verdienstvollen Lehrwerk drückt sich hier auch. In Vamos ver übertitelt sie in der 3. Lektion: «Ela me dará o quarto?» (statt: ela dar-me-á o quarto). Aber vielleicht war die in Brasilien verbrachte Kindheit der Hamburger Portugiesin bzw. portugiesischen Hamburgerin Natália hier übermächtig. Überhaupt die Pronomen! Die Brasilianer haben auch keine Probleme damit, vejo-ele statt vejo-o (ich sehe ihn) zu sagen. Doch das wird Schule als Fehler angestrichen.

Also auch auf dem Sektor der Grammatik kann nicht von einer eigenständigen Sprache die Rede sein. Noch viel weniger bei der Rechtschreibung. Abgesehen vom „ü“ nach „g“ oder „q“ vor „e“, wenn das „u“ vor „e“ gesprochen wird (z.B. agüentar statt aguentar) und einigen Nuancen bei der Verwendung der Akzente, beruht der Hauptunterschied im Wegfall des „c“ und des „p“ vor Konsonant (also: ótimo statt óptimo, fato statt facto, direção statt direcção). Und selbst dieser Unterschied bestünde nicht, wenn die beiden Parlamente sich endlich zu dem seit der letzten gemeinsamen Rechtschreibreform von 1911 (!) längst überfälligen acordo ortográfico hätten durchringen können.

Bleibt also nur noch das weite Feld des Wortschatzes. Hier lassen sich in der Tat eine ganze Reihe von Differenzen aufzeigen, welche die unterschiedliche Entwicklung der beiden Länder widerspiegeln. Doch reicht das aus, um von einem eigenständigen „Brasilianisch“ zu sprechen? Vor 10 Jahren veröffentlichte der Brasilianer Mauro Villar sein zweisprachiges portugiesisch-brasilianisches Lexikon (Dicionário Contrastivo Luso-Brasileiro, Editora Guanabara). Es umfasst zwei Bände, jeweils mit 8500 Ausdrücken, die es auf dem anderen Kontinent nicht gibt oder dort eine andere Bedeutung haben. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass Mauro Villar bei seinen Nachforschungen eine Reihe weiterer semantischer Unterschiede entgangen sind, so halten sich diese im Verhältnis zum Gesamtkorpus des Portugiesischen, mit geschätzten 700.000 Wörtern eine der reichsten europäischen Sprachen, doch in sehr engen Grenzen.

Zudem fällt auf, dass viele der von Villar versammelten Ausdrücke aus dem umgangssprachlichen Bereich stammen, d.h. der Mode unterworfen sind. Da machen sich die 10.000 km Atlantik, die Portugal und Brasilien trennen, doch sehr bemerkbar. Wir kennen das aus unserem eigenen, kleinen Land, wo sich landschaftliche Unterschiede schon verständnishemmend auswirken können. Schicken Sie mal ‘ne Kölsche Jung auf die Schwäbische Alb. Das wird ein echtes Survival-Training! Und so hätte auch ein Brasilianer große Mühe einen Portugiesen zu verstehen, wenn dieser ihm z.B. mitteilt: «Vi a gaja com um puto na bicha do eléctrico.» Er hätte auf „brasilianisch“ sagen müssen: «Vi a sujeita com um guri na fila do bonde.» Auf deutsch heißen die beiden Sätze etwa: „Ich hab die Mieze (Biene, Schnitte o.ä.) mit ‘nem Gör in der Schlange an der Straßenbahn gesehen.“

Häufig finden sich Ausdrücke, die es in beiden Ländern gibt, aber mit unterschiedlicher Bedeutung. Was wiederum zu peinlichen Missverständnissen führen kann. So als eine Hamburgerin, des europäischen Portugiesisch mächtig, bei einem Brasilienaufenthalt einem jungen Landesbewohner, der sie zu einem Abendspaziergang abholte, wegen der kühlen Witterung bedeutete, er möge einen Augenblick warten, sie müsse sich noch ihre camisola (port. Pullover, bras. Nachthemd) holen. Oder als in Lissabon einem Brasilianer, der sich nicht ordentlich in eine Schlange eingereiht hatte, gesagt wurde: «Ponha-se na bicha!» (port. Menschenschlange, bras. Schwuler).

Nachfolgend eine von mir zusammengestellte Liste von Doppelbegriffen, die mir im Laufe der Zeit untergekommen sind, eine Reihe davon bei der Korrektur von Portugiesischarbeiten der Deutsch-Brasilianer, die am Hamburger Studienkolleg ihr deutsches Abitur nachholen. Sie ist naturgemäß sehr viel weniger umfangreich als die von Mauro Villar und entsprechend ergänzungsbedürftig. Eine Reihe der brasilianischen Begriffe gibt es auch in Europa, allerdings mit anderer Bedeutung. So heißt in Portugal abajur„Lampenschirm“, apelido „Nachname“, arrumar „aufräumen“, auch „einparken“, bala „(Kanonen)Kugel“, calçada „Gasse“, „gepflasterter Weg“, engenho „List“, „Geschicklichkeit“, fazenda „Stoff“, „Tuch“, fila „(Auto)Schlange“, ginásio „Turnhalle“, meia hora „halbe Stunde“, papo „Kropf“, perua „Pute“, sítio „Ort“, „Platz“, sobrado „(Holz)Fußboden“, trem „Tross“, „(Küchen)Ausstattung“, trilho „Spur“, xícara „Henkelkrug“.


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Einige in Mauro Villlars Lexikon aufgeführte Unterschiede sind einfach stilistischer Art, wie wir sie auch zwischen unterschiedlichen Regionen im eigenen Lande haben, z.B. süddeutsch „es hat“ für „es gibt“ (port há, bras. tem). Sie tun dem gegenseitigen Verständnis keinerlei Abbruch, egal ob ich lavar os dentes (port.) oder escovar os dentes (bras.) sage, conduzir um carro (port.) oder dirigir um carro (bras.), ver televisão (port.) oder assistir televisão (bras.). In vielen Fällen zieht der Brasilianer das expressivere Verb meter (port. hineintun) vor, wo der Portugiese ein schlichtes pôr (setzen, stellen, legen) benutzt.

Wenn es überhaupt Verständnisprobleme geben sollte, dann eher auf brasilianischer Seite. Man könnte sich theoretisch einen Text basteln, der so voller europäischer Lusitanismen ist, dass der einfache Brasilianer passen müsste. Umgekehrt dürfte dieser Fall kaum eintreten. Und dies hat einen sehr einfachen Grund: die telenovelas. Seit diese auch über Portugals Mattscheiben flimmern, weiß auch der letzte Portugiese was ein Brasilianer will, wenn er fragt «Topas?» oder «’Tá legal?»

Bei den ersten in Portugal ausgestrahlten tele-novelas Ende der 70er Jahre (z.B. «Gabriela») überlegte man noch, ob man sie mit legendas (Untertiteln) versehen sollte. Dies ist längst vom Tisch. Im Gegenteil: die brasilianischen Varianten werden in Portugal als reizvoll empfunden und vor allem vom jungen Publikum begierig aufgenommen und imitiert. So verdrängt das brasilianische «Oi!» („Hallo!“) mehr und mehr das landesübliche «Olá!» und «Como vai?» („Wie geht’s?“) das portugiesische «Como está(s)?». Und als Antwort hört man dann «Estou numa boa.» („Ich bin gut drauf“), wo es früher hieß: «Estou bem/óptimo/porreiro/bestial». Allerdings gab es noch 1992 einen Skandal, als die Organisatoren des Portugal-Pavillons auf der EXPO in Sevilla diesen „Brasilianismus“ aufgriffen, um den Slogan zu prägen: Estou numa de Portugal.

Waren „Portugiesisch“ und „Brasilianisch“ schon vorher keine gesonderten Sprachen, durch die im Zuge der telenovelas schleichende „Brasilianisierung“ des europäischen Portugiesisch werden sie es in Zukunft erst recht nicht sein. Es bahnt sich allerdings eine Machtverschiebung an, die den Sprachpuristen in Portugal wenig schmeckt. Das alte Diktum, dass das Brasilianische eine Variante des Portugiesischen sei (O brasileiro é uma variante do português), droht zum Absurdum zu werden, sofern es aufgrund der Sprecherzahl (160 Millionen Brasilianer gegenüber 12 Millionen Portugiesen) nicht schon jetzt eines ist. Aber es droht noch Schlimmeres, nämlich die Aussicht, dass es eines Tages heißt: O português é uma variante do brasileiro.





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Portugal-Post Nr. 10 / 2000


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