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Pillen fürs Vergessen

Von Regina Correia

Wir setzen uns vorsichtig und mit angelegten Ellbogen in die immer engeren Sitze einer angeblich geräumigen Flugzeugkabine, inzwischen jedoch ein knapper Raum für die immer größere Zahl von Benutzern, die nötig sind, um dem schnellen Profit und der Globalisierung zum Erfolg zu verhelfen.

Wir werden betreut von ungeschickten Stewards mit flaumigen und pickligen Gesichtern, die uns mit kochend heißem Kaffee besprühen, Coca-Cola in alle Richtungen spritzen; von jeder Form der Höflichkeit unbeleckt hauen sie uns fast das Tablett mit unserer Ration an den Kopf. Coffee? Kaffee? Noch immer ist ein Passagier dabei, seine erste und vielleicht endgültige Wahl in dem vor ihm aufgebahrten Essen zu treffen, das immer mehr in Plastik erstickt, besonders seit das Großkapital bei den Luftfahrtgesellschaften das Sagen hat. Und wir, das schutzlose Vieh, in den Stall gepfercht, am Rande eines Nervenzusammenbruchs, tun so als ob wir die weibischen Ticks des Kabinenchefs ignorieren, eines in die Jahre gekommenen Heiligen, der die beiden jungen Stewardessen beschützt, die durch das Mikrofon ein Sonderangebot-Englisch näseln, ständig von langen Pausen unterbrochen, weil sie ihre Lektion schlecht gelernt haben und/oder nervös sind auf diesem Probeflug.

Wir dringen in das Netz der romanhaften Verwicklungen eines Krimis ein, werfen einen abschätzenden Blick in die „Financial Times“, überprüfen touristische Reisewege, lösen Kreuzworträtsel, machen Tagebucheinträge, angeschnallt (wegen starker Turbulenzen), die Augenbrauen ständig zusammengezogen, still wie Tiere, die auf der Hut sind, die Oberlippe vorgestülpt, wie jemand der völlig weggetreten ist, wie gigantische Eisberge in der transparenten und gefrorenen Unendlichkeit dieses beengten Lebensraumes. Wir sind Fahrgäste des Jenseits: jenseits des Lachens, jenseits der Zuwendung.

Lediglich die raue, aber sichere Stimme des Flugkapitäns, der uns über die Höhe, Geschwindigkeit, Route, Außentemperatur und den Zeitplan informiert, ebenso wie das schrille und unpassende Quietschen der sich verklemmenden Räder des Getränkewagens, das allgemeine Fröhlichkeit hervorruft, tauen für ein paar Sekunden die taube und stumme Atmosphäre dieses Gefängnisses auf. Stellen die Stille, die Verachtung, die Kühle, das Ignorieren, die Gefühllosigkeit nicht eine Art von Nichtangriffspakt dar? Sollten wir nicht die eingekerkerten Dämone freilassen wie Affen, Schweine oder Hühner in vollgestopften Käfigen? So wie der Bursche aus der Big Bro-ther-Truppe, der, wohl weil er in einer Direktsendung einer Kollegin aus dem Glückscontainer einen Fußtritt veretzt hat, sich plötzlich zu einer Hauptfigur der Welt des Fernsehens verwandelt sah mit ausführlicher und günstigster Sendezeit in Nachrichtensendungen, Talk-Shows, zu einem Debattenthema an Universitäten, zu einer Existenzberechtigung von Tausenden und Abertausenden von Bürgern eines Landes, wo die Politik eine geschmacklose Farce ist, das Wohnen, die Beschäftigung, die soziale Gerechtigkeit, das Erziehungs- und Gesundheitswesen nichts anderes als Wahlkampfthemen sind, wo die Gewalt gegen Frauen unser täglich Brot ist, wo die Unsicherheit, Jugendstraffälligkeit und die Kriminalität sich ausbreiten und wo Diskriminierung und Rassismus ihr Banner flattern lassen.

Bürger eines Landes, das betäubt ist vom Lärm, Informationsvergiftung, von Shows, wo es um Millionen von Escudos geht, von kleinlichen Intrigen rund um den Fußball, von Belanglosigkeit, von dem sympathischen Schweigen der Kirche. Eine Umarmung für Fernando Dacosta. Wegen seiner Hellsichtigkeit. Einfach weil er die „Pillen für das Vergessen“ genannt hat, die ihre Berechtigung aus diesen modernen Erfolgsdemokratien beziehen.


Exklusiv für „Portugal-Post“
Hamburg, im Oktober 2000





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Portugal-Post Nr. 12 / 2000