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Buchbesprechung
Bodo Kirchhoff, Wo das Meer beginnt

Von Peter Koj

Vergewaltigung oder nicht? Diese Frage hält den Leser ca. 300 Seiten lang auf Trab. Es ist aber nicht das zentrale Thema des neuen Romans von Deutschlands augenblicklich wohl produktivstem und erfolgreichstem Erzähler (die Romane Infanta aus dem Jahre 1990 und Parlando aus dem Jahre 2001 erwiesen sich bereits als große Renner). Worum geht es nun dieses Mal? Um menschliche Beziehungen auf den verschiedensten Altersstufen (alter Lehrer - Junglehrerin, Lehrer - Schüler, Abiturient - Oberstufenschülerin), um das Altern und den Tod, über Eros und Sex. Und auch hier erweist sich der 1948 in Hamburg geborene Bodo Kirchhoff wieder als fulminanter Erzähler und Meister des Dialogs. Interessanterweise dient ihm Lissabon dabei als Folie. Ort des Geschehens ist zwar Frankfurt/Main, dargestellt wird dieses jedoch aus der Perspektive Lissabons, wo der Ich-Erzähler Viktor Haberland 12 Jahre nach dem Geschehen im Keller des Hölderlin-Gymnasiums als Referent am Goethe-Institut tätig ist und gerade einen Vortragsabend über Das traurige Ich vorbereitet, in dem der Fado und die Saudade natürlich nicht fehlen dürfen.

Die Feiern zum 40jährigen Bestehen des Lissabonner Goethe-Instituts im Jahre 2002 (über seinen ersten Direktor Wolf Bergmann informierte Portugal-Post 25 und 26) mögen Bodo Kirchhoff zum Rahmen seines neuen Romans angeregt haben. Aber über die Erwähnung bestimmter Örtlichkeiten (Campo dos Mártires da Pátria, Sitz des Instituts und der deutschen Botschaft, die Rua da Atalaia im Bairro Alto, Ort der ersten Annäherung zwischen Viktor und dem "Opfer" Tizia im Rahmen einer Oberstufen-Projektreise, Alfama) hinaus gibt es wenig Lokalkolorit. Das portugiesischste ist noch der Buchtitel, die zweite Hälfte des berühmten Camões-Zitats Onde a terra acaba e o mar começa. Das kennt der Protagonist natürlich nicht aus der Lektüre der Lusiaden, sondern von der Inschrift des Denkmals, das die Rotarier auf dem westlichsten Punkt Festlandeuropas, dem Cabo da Roca, errichtet haben. Dieses Zitat wird später beziehungsreich mit der Leidenschaft der Junglehrerin Kristine Kressnitz verknüpft, die sie in einer Pension oberhalb des Rossio-Bahnhofs auf derselben Projektreise zum alternden Dr. Branzger, der (un)heimlichen Hauptperson des Romans, erfasst.

Lissabon hatte schon in Parlando eine Rolle gespielt. Die Spurensuche nach dem Vorleben seines Vaters, Verfassers eines "Stadtführers für Alleinreisende", führt den Protagonisten Karl Faller auch an die Tejomündung. So haben - nach dem Portugiesen José Saramago (Das Todesjahr des Ricardo Reis), dem italienischen Portugiesen bzw. portugiesischen Italiener Antonio Tabucchi (Lissabonner Requiem), dem Holländer Cees Noteboom (Die folgende Geschichte) und dem Engländer Robert Wilson (Tod in Lissabon) - mit Bodo Kirchhoff und Pascal Mercier (Nachtzug nach Lissabon) gleich zwei deutschsprachige Autoren Lissabon als das entdeckt, was es aufgrund seiner Lage, seines Ambiente, seiner Geschichte und seiner Menschen auf der literarischen Landkarte mehr als jede andere europäische Metropole bedeutet: einen Ort der Seelenwanderung und menschlichen Begegnung.

Bodo Kirchhoff: Wo das Meer beginnt. Frankfurter Verlagsanstalt. Frankfurt am Main 2004. 307 Seiten





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Portugal-Post Nr. 28 / 2004