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Candide in Lissabon

Von Peter Koj

Vier Jahre nach dem Erdbeben veröffentlichte Voltaire seinen pikaresken Roman Candide. Er hatte große Wirkung auf seine Zeitgenossen und aufgrund seiner satirischen Ader und dem erzählerischen Witz provoziert und entzückt er die Leser noch heute. Die Hauptfigur Candide ist - wie der Name andeutet - eine naive Person. Er lässt sich leicht verführen von den Argumenten anderer, wie z. B. die des Philosophen Dr. Pangloss. Die beiden arbeiten auf dem Schloss des Baron Thunder ten Tronck von Westfalen. Aber als der Baron Candide in flagranti ertappt, wie er seine Tochter Kunigunde küsst, jagt er ihn mit wuchtigen Tritten in den Hintern aus dem Schloss. Von nun ab streift Candide wie ein echter Pícaro durch die weite Welt, wobei er verschiedene Stationen des Grauens durchläuft, die in deutlichem Widerspruch zur Philosophie des Dr. Pangloss stehen, wonach "alles zum besten steht in der besten aller möglichen Welten " und in der Gott in seiner Vorsorglichkeit die Dinge so eingerichtet hat, dass sie nicht anders ablaufen können.

Nachdem Candide mit knapper Not den Schrecken des Bulgarenkrieges entronnen ist, schifft er sich mit Dr. Pangloss nach Lissabon ein. Das Schiff kentert in der Tejomündung und auf einer Planke schwimmend erreichen die beiden das rettende Ufer. Doch dort erwartet sie ein noch schlimmeres Schicksal:

Kaum hatten sie die Stadt erreicht, als die Erde unter ihren Füßen erbebte; brausend und zischend wälzten sich die Wogen des Meeres in den Hafen, und die Schiffe, die dort vor Anker lagen, zerschellten. Flammenströme und Aschenregen wirbelten über Straßen und Plätze; Häuser stürzten ein, Dächer fielen auf die Fundamente, und die Fundamente barsten. Dreißigtausend Menschen jeden Alters und Geschlechts lagen zermalmt unter den Trümmern [...]

"Welches mag wohl der zureichende Grund für dieses Naturereignis sein?" fragte Pangloss.
"Das ist der Weltuntergang," schrie Candide [...]

Nachdem sie am nächsten Tage einige Esswaren unter den Schutt- und Trümmerhaufen gefunden hatten, frischten sie ihre Kräfte wieder etwas auf und machten sich zusammen mit anderen ans Werk, um die Not der Einwohner, die dem Tod entronnen waren, zu lindern. Einige Bürger gaben ihnen zum Dank für ihre Hilfe eine Mittagsmahlzeit, so schlecht und recht, wie man es bei einem solchen Unglück eben haben konnte. Es war wirklich ein trauriges Mahl. Die Tischgenossen benetzten das Brot mit ihren Tränen, Pangloss jedoch tröstete sie mit der Versicherung, die Dinge könnten gar nicht anders sein.
"Denn", so sagte er, "alles ist dies so am besten. Wenn es nämlich bei Lissabon einen Vulkan gibt, so kann das Erdbeben nicht woanders sein, denn es ist ja selbstverständlich, dass sich die Ereignisse dort abspielen müssen, wo sie entstehen. Also ist alles gut."

Sein Tischnachbar, ein kleiner Mann mit schwarzem Haar und dunkler Hautfarbe, der ein Späher der Inquisition war, wandte sich höflich an Pangloss und sagte:
"Anscheinend glaubt der Herr nicht an die Erbsünde, denn wenn alles gut ist, so gibt es weder Sündenfall noch Sühne."

"Ich bitte Eure Exzellenz alleruntertänigst um Verzeihung", antwortete Pangloss noch höflicher, "aber Sündenfall und Erbfluch gehören ja notwendigerweise zu der besten aller Welten."

"Also glaubt der Herr nicht an die Freiheit des Willens?" fragte der Spitzel weiter.

"Eure Exzellenz werden entschuldigen," begann Pangloss seine Darlegungen, "Willensfreiheit und absolute Notwendigkeit können durchaus nebeneinander bestehen. Wir müssen ja einen freien Willen haben, denn schließlich ist der determinierte Wille ..."

Pangloss hatte seinen Satz noch nicht beendet, als der Spitzel seinem Diener, der ihm gerade ein Glas Portwein einschenkte, mit dem Kopf ein Zeichen gab.

Ende des 5. Kapitels. Das 6. Kapitel schildert, wie die Klugen des Landes auf die Katastrophe reagieren.

Nach dem Erdbeben, das drei Viertel von Lissabon zerstört hatte, fanden die klügeren Köpfe des Landes kein wirksameres Mittel zur Verhinderung der völligen Vernichtung, als dem Volk das Schauspiel eines prächtigen Autodafés zu bieten. Die Universität von Coimbra hatte nämlich entschieden, dass das mit feierlichem Gepränge veranstaltete langsame Verbrennen mehrerer Menschen ein unfehlbares Mittel zur Verhütung von Erdbeben sei.

[...] man legte auch den Doktor Pangloss und seinen Schüler in Fesseln, den einen, weil er gesprochen, den anderen, weil er mit beifälliger Miene zugehört hatte.[...] Während man sang, wurde Candide im Takt gepeitscht [...] und Pangloss wurde gehängt, obwohl das sonst nicht üblich war. Noch am gleichen Tage erbebte die Erde unter fürchterlichem Getöse von neuem.1

Die Botschaft Voltaires ist unmissverständlich: religiöser Fanatismus (Inquisition) werden ebenso wie die Philosophie des Pangloss nicht unserem Alltag gerecht. Der Mensch muss sich vielmehr mit der Welt abfinden, wie sie sich uns darstellt, und statt Opfer religiöser Verbohrtheit oder philosophischer Spekulationen zu werden, soll er sein Leben leben oder, wie es Voltaire im letzten Satz des Romans ausdrückt, als Pangloss mal wieder versucht, die Geschehnisse auf seine philosophische Weise zu resümieren, und Candide erwidert: "Sehr richtig, aber wir müssen unseren Garten bestellen."

Übrigens ist Candide nicht die einzige literarische Reaktion Voltaires auf das Erdbeben. Bereits im Jahre 1756 hatte er sein berühmtes Gedicht über das Unglück von Lissabon oder Prüfung des Lehrsatzes: Alles ist gut veröffentlicht. Wie schon der Untertitel andeutet, werden darin die deutschen Philosophen wie Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff angegriffen, für die es einen fürsorglichen Gott gibt und daher eine Erklärung für alles, was auf der Welt geschieht. Das Erdbeben von Lissabon ist nun für Voltaire ein deutliches Gegenbeispiel. Wie soll man solch eine Katastrophe erklären, das zudem an Allerheiligen geschah, als sich viele Gläubige in Kirchen und Kapellen versammelt hatten, wo die Todesrate sehr viel höher war als an anderen Örtlichkeiten der Stadt, inklusive die Rotlichtviertel, wo Prostituierte und Säufer überlebten.2

Das Gedicht von Voltaire wurde postwendend vom Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau beantwortet, der ihm einen Brief über die Vorsehung sandte, in dem er lebhaft die Unsterblichkeit der Seele und die Existenz einer wohltätigen Vorhersehung verteidigte. Voltaire gab vor, krank zu sein, um nicht direkt antworten zu müssen. Seine wirkliche Antwort war drei Jahre später der Roman Candide.


1 Die Übersetzung lehnt sich an die von Ilse Lehmann an, die als Insel Taschenbuch erschienen ist.
2Dies eines der zentralen Themen des Romans O Terramoto de Lisboa e a Invenção do Mundo von Luís Rosa, das im letzten Jahr im Editorial Verlag erschienen ist




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Portugal-Post Nr. 32 / 2005





Prediger zwischen Ruinen