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Wo war Gott am 1. November 1755?

Von Paul Schulz *

Gestern. Wieder 30.000 Tote - mindestens. Diesmal Erdbeben in Kaschmir. Dezember 2004 mehr als 220.000 Toten durch das Seebeben im Indischen Ozean mit dem verheerenden Tsumani. Dezember 2003 Erdbeben im iranischen Bam mit über 31.000 Toten; 1976 im chinesischen Tangschan mit 240.000 Toten; 1923 im japanischen Tokio mit 143.000 Toten; 1906 in San Francisco mit wohl mindestens 3.000 Toten ... 60.000 Tote damals am 1. November 1755 beim Erdbeben in Lissabon: Die Gläubigen gingen morgens Allerheiligen zur Messe, als die Erde bebte und das Zentrum von Lissabon in wenigen Augenblicken in sich zusammenbrach - das ist jetzt auf den Tag genau 250 Jahre her.

Schon 1755 gab es zu diesem Erdbebendrama eine dramatische "Theodizee"-Debatte, einen Streit um Gott: Wie konnte Gott das zulassen? Wo war Gott in diesen schrecklichen Minuten des tödlichen Crash? Was eigentlich ist göttliche Liebe und Barmherzigkeit dagegen überhaupt wert? Selbst der große Aufklärer Voltaire beteiligte sich an dieser Lissabon-Debatte. Die Fragen damals nach Gott sind genau die gleichen Fragen nach Gott heute. Wo ist Gott bei alle dem?

Wir geben hier drei kurze Orientierungshilfen für alle, die sich angesichts furchtbarer Naturkatastrophen mit der Gottesfrage herumquälen:

1. Die Natur ist gnadenlos grausam

Die Natur ist grandios und gewaltig. Als solche ist Natur feindlich und gnadenlos. Sie räumt weg, was sich ihr in den Weg stellt, ohne Ansehen der Person. Wir meinen leicht, Natur sei Wonnemonat Mai mit Spazierengehen bei mildem Schein des Vollmondes. Doch Natur ist die Eiskälte, in der alles Leben erstarrt; sind die gewaltigen Stürme und Überschwemmungen, die Kultiviertes ins Verderben reißen; ist die sengende Hitze und Dürre, die Land und Vegetation ausmergelt und Hungersnöte auslöst; sind Erdbeben und Vulkanausbrüche, die Zivilisation unter sich begraben und den Menschen unter elenden Umständen qualvoll umkommen oder gebrochen überleben lassen.

Natur ist Natur. Die Natur in sich kennt keine Naturkatastrophen. Natur ist Realität. Seit Urbeginn der Erde bedeutet Evolution der Natur auch Urgewalt der radikalen Vernichtung und damit entsetzliches Elend und Tod für das individuelle Leben.

2. Not, Angst, Verzweiflung erhoffen Gott

Als nach endlos langer Evolution des Lebenden vor rund 150.000 Jahren der Mensch sich langsam seiner selbst bewusst wurde, da erkannte er seine Bedrohung durch die Natur, seine Schwäche und Ohnmacht, die Begrenztheit seines Lebens durch den Tod. Er baute seinen Toten Gräber und grübelte darüber nach, wie denn die Toten mit ihren Körpern noch hier sein konnten, aber mit ihrem Leben ganz offensichtlich nicht mehr da waren. Schon der frühe Mensch vermutete seine Toten "in einem Raum nebenan", in einem jenseitigen Bereich, wo sie vor der Natur ein sicheres, unbedrohtes Leben führen konnten.

Aus diesem frühen Totenkult entstand Religion, die Hoffnung, dass gegen die Bedrohung der Natur und gegen alles Irdische etwas Höhermächtiges, Jenseitiges da wäre, was den Menschen in Schutz nehmen würde. Letztlich sucht der Mensch auch noch heute in Gott eine übermächtige transzendente Gestalt, die dem Ich Schutz und Sicherheit gibt gegen alle weltliche Bedrohungen, Gewissheit gegen alle realen Infragestellungen, Bestand und ewiges Leben gegen alles Vergängliche.

So analysiert der große Philosoph Ludwig Feuerbach 1841 in seinem berühmten Buch "Wesen des Christentums" knallhart: Gott entsteht aus den Bedürfnissen des Menschen. Der Mensch projiziert auf Gott hin alle seine Wünsche, seine Hoffnungen, seine Sehnsüchte. Dabei sieht sich der Mensch gegenüber der Natur in Gott selbst als überhöhtes Wesen, unzerstörbar, ewig. Wir fügen hinzu: Diese religiöse Vorstellungswelt ist ein Produkt menschlichen Denkens. Sie ist nicht wirklich wirklich. Außerhalb des Denkens ist Gott kein Faktor der Realität, der Natur, des Seins. Gott gibt es nur innerhalb dieses menschlichen Denkens. Gott also ist Gedankenwelt. Ist Kopfwelt. Stirbt der Mensch, stirbt mit dem Menschen sein Bewusstsein und mit seinem Bewusstsein stirbt auch - sein - Gott.

3. Nur der Mensch selbst ist sich Rettung

Wann immer die Natur gewaltig zum Ausbruch kommt und dabei Lebewesen vernichtet, auch das Leben der Menschen gnadenlos zerschlägt, - dann prallt die harte Realität des Seins auf die spekulative Gotteswelt des Menschen, steht die krasse Wirklichkeit konträr zu den religiösen Wunschvorstellungen der Menschen.

Existentiell sind diese religiösen Wunschvorstellungen nur zu verständlich, denn natürlich möchte sich jeder gerade auch bei entsetzlicher Gefahr und Not in Sicherheit bringen, möchte das rettende Ufer, Gott, erreichen. Doch dieser religiöse Ausweg ins Jenseitige ist nicht realistisch, ist nicht die harte Wirklichkeit.

R e a l i s t i s c h ist als harte Wirklichkeit erstens:
Der Mensch ist der Natur ohne göttlichen Schutz von außen ausgeliefert. Natur ist ohne Gott, ohne ein aus dem Jenseitigen heraus helfendes Wesen. Da wo der Mensch Gott real erhofft, ist Gott gar nicht - trotz all seiner Religion und egal mit welcher Religion auch immer.

R e a l i s t i s c h ist als harte Wirklichkeit zweitens:
Der Mensch findet Hilfe und Rettung nur durch den Menschen selbst. Nur der Mensch selbst ist sich Rettung, indem er alles tut, was Schutz und Hilfe leistet.

Konkret: Indem wir Frühwarnsysteme bauen, die die Bedrohten rechtzeitig warnen. Indem wir Deiche und Dämme schaffen, die die Bedrohten zumindest bis zum Eintreffen von Hilfe absichern. Indem wir Häuser konstruieren, die Erdstöße besser abfangen können. Indem Rettungsmannschaften bereit stehen, die technische Hilfe leisten können. Indem Verwaltungen schnellstmöglich reagieren, damit Hilfe auch ankommt... In summa: Indem wir alle Mittel nutzen, die uns die rationale, wissenschaftlich-technische Welt zur Verfügung stellt, um die Bedrohungen der Natur - und der Welt - wohl kaum zu beherrschen, aber doch auf ein wesentlich verringertes Maß abzumildern.

Vor allem aber, indem wir Menschen selbst ganz nüchtern begreifen,

- dass es nur so viel Liebe gibt,
wie wir selber lieben;
- dass es nur so viel Fürsorge gibt,
wie wir selber Fürsorge leisten;
- dass es nur so viel Hilfe und Rettung gibt,
wie wir selber Hilfe und Rettung schaffen.


* Dr. theol. Paul Schulz war in den 70er Jahren Pastor an der Hauptkirche St. Jacobi, wurde aber wegen Glaubendifferenzen von seinem Amt suspendiert. Leitet seit 1996 die von ihm gegründete Senioren-Akademie Alstertal. Im Januar 2006 ist sein Buch "Codex Atheos. Die Kraft des Atheismus" erschienen (Verlag ISSSG)




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Portugal-Post Nr. 32 / 2005


Dr. theol. Paul Schulz