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Dankesrede anlässlich der Verleihung des Albatros-Preises in Bremen am 5. Mai 2006

Von Karin von Schweder-Schreiner

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde!

Man hat mich oft gefragt, warum ich Übersetzerin geworden bin. Ich glaube, dafür gibt es zwei Gründe, die beide mit meiner Kindheit zu tun haben. Der erste: Als Kinder durften wir, wenn wir ein Paket bekamen, die Schnur nicht einfach durchschneiden, nein, wir mussten die Knoten säuberlich aufpulen, denn in der Nachkriegszeit wurde alles doppelt und dreifach verwertet. Irgendwann hat mir dieses Knotenpulen dann Spaß gemacht, und inzwischen profitiere ich von der damals erworbenen Fertigkeit, jetzt allerdings auf linguistischer Ebene. Mir scheint nämlich, dass manche Autoren zwar vielleicht nicht gern Knoten aufpulen, aber mit Sicherheit gern knüpfen. Da gilt es dann, den Faden zu finden, der zur Lösung, zum richtigen Verständnis führt. Hilfreich ist für mich dabei auch immer wieder, an die Worte meines Lateinlehrers zu denken: "Konschtruieren, meine Damen, konschtruieren!"

Ein zweiter und wohl der wichtigere Grund für meine Berufswahl ist wahrscheinlich der Umstand, dass ich von klein auf daran gewöhnt war, in meiner Umgebung eine fremde Sprache zu hören. Meine Familie stammt zum Teil aus Russland, und wenn wir Kinder etwas nicht verstehen sollten, sprachen die Erwachsenen Russisch. Leider haben wir es damals nicht lernen dürfen - aus heutiger Sicht für mich verständlich: Als Flüchtlingsfrau mit drei kleinen Kindern bei einem niedersächsischen Kleinbauern zwangseinquartiert, hatte meine Mutter es schon schwer genug, da durften wir nicht auch noch die Sprache des Feindes sprechen. Dennoch, dass ich mich dann fürs Portugiesische entschieden habe, war vermutlich reine Rache, das konnte schließlich niemand in der Familie.

Rache kann auch wunderbare Folgen zeitigen. Durch meinen Beruf habe ich Portugal und später Brasilien kennen gelernt. Die Jahre, die ich in diesen Ländern gelebt habe, haben mich tief geprägt, mich innerlich verändert. Einen großen Anteil daran haben die Autorinnen und Autoren, deren Bekanntschaft und auch Freundschaft ich dem Übersetzen verdanke.

Als junge Übersetzerin glaubte ich, alles wissen, alles verstehen zu müssen, den Autoren keine Fragen stellen zu dürfen, ich fürchtete, damit würde ich mir eine so große Blöße geben, dass den Autoren - womöglich berechtigte - Zweifel an meiner Fähigkeit kommen würden. Doch im Laufe der Jahre und mit wachsender Erfahrung, vor allem dank der lehrreichen Zusammenarbeit mit guten Lektoren, wurde ich mutiger; und je sicherer ich im Metier des Übersetzens wurde, um so mehr fragte ich. Da ich das Glück habe, die meisten Autoren, deren Bücher ich übersetze, persönlich zu kennen, habe ich, wann immer möglich, auch mit ihnen persönlich gearbeitet. Aus den Arbeitsbegegnungen sind Freundschaften entstanden.

Eine besondere Freundschaft verbindet mich mit Lídia Jorge. Seit ich ihre Bücher übersetze - das erste, "Nachricht von der anderen Seite der Straße", immerhin schon vor nunmehr siebzehn Jahren -, bin ich regelmäßig zu ihr nach Portugal gereist, um meine Fragen im Gespräch mit ihr zu klären. Unsere Treffen fanden in Lissabon in ihrer Wohnung statt oder, wenn es sich mit der Jahreszeit und meinem Abgabetermin so fügte, im Sommer im Algarve, im Haus ihrer Mutter, dort, wo sie aufgewachsen ist. Das bedeutet, ich kenne ihre Familie, ich kenne die Landschaft ihrer Kindheit, deren Farben, Düfte und Gerüche. Und ich bin fest davon überzeugt, dass solche sinnlichen Wahrnehmungen in meine Arbeit einfließen, die Atmosphäre des deutschen Textes prägen, auch wenn sie in dem Werk, das ich übersetze, nicht explizit erwähnt werden.

Wenn Lídia Jorge in einem Beitrag zu dem kürzlich im Suhrkamp Verlag und gleichzeitig in dem polnischen Verlag Czarne erschienenen Buch Last & Lost, Ein Atlas des verschwindenden Europas, die Geschichte ihrer Großmutter erzählt und von einer damals angelegten Dachterrasse und einem Dreschplatz für das Getreide, dann weiß ich, wovon sie spricht, denn ich habe schon selbst darauf gestanden. Ich weiß, über welche Rinnen das Regenwasser in die Zisterne floss, denn ich habe sie gesehen. Wenn sie in ihrem Roman Paradies ohne Grenzen die Straßen und Kreuzungen der Alfama, des vom Erdbeben 1755 verschonten Teils von Lissabon, und der Baixa, dem Zentrum der Stadt, nennt, dann ist mir der Ausblick von der Altstadt, das Gedränge in den Straßen vertraut. In den vielen Stunden, den vielen Gesprächen mit ihr habe ich Lídias Geduld fraglos strapaziert, und so hat sie einmal, als endlich - weit nach Mitternacht - alle meine Fragen beantwortet waren, Musik von den Kapverden aufgelegt, und wir haben unsere Konzentration, unsere Anspannung von den weichen, melodischen Klängen lösen lassen und getanzt.

Lídia Jorges Romane haben mir auch ganz besondere Erlebnisse beschert. Als ich im Sommer 1996 an der Übersetzung vom Paradies ohne Grenzen arbeitete, machte ich zwischendrin Urlaub im Algarve. Eines Abends, beim Flanieren nach dem Essen, weckte eine kleine Menschenansammlung in einer Nebenstraße meine Neugier. Die Menge umringte einen jungen Mann, der, von Kopf bis Fuß patinagrün gekleidet und geschminkt, auf einem Podest stand und zur Musik von einem Kassettenrekorder mit Roboterbewegungen Werbezettel für eine Diskothek verteilte. Welcher Teufel mich ritt, kann ich nicht erklären, jedenfalls ging ich zu ihm und sagte: "Ich weiß, dass Sie mir nicht antworten werden. Dennoch möchte ich Ihnen sagen, dass ich gerade einen Roman von Lídia Jorge übersetze, dessen Protagonist ein junger Mann ist, der wie Sie als lebende Statue auftritt." Woraufhin er mit dem Zeigefinger roboterhaft auf seine Brust wies und mir zu verstehen gab, der Protagonist sei nicht einer wie er, sonder er selbst. Mit anderen Worten: Da stand meine Romanfigur leibhaftig vor mir! - Und nachher bestätigte er mir, dass Lídia intuitiv exakt erfasst und beschrieben hatte, was in ihm vorging, wenn er stundenlang als lebende Statue in den Straßen von Lissabon stand.

Ebenso unvergesslich ist mir in Erinnerung, wie wir in einem Lüneburger Hotelzimmer einander die Geschichten unserer Väter erzählten und dann Lídia sagte: "Eigentlich müsste ich daraus eine Erzählung machen." Es wurde keine Erzählung, es wurde ein wunderbarer Roman: Die Decke des Soldaten. Dass es sich jedoch in erster Linie um Fiktion handelt, braucht wohl kaum dazugesagt zu werden.

Übersetzen - was bedeutet das? Darüber haben schon viele kluge Menschen viele kluge Bücher geschrieben, ihre Theorien will ich hier nicht referieren. Für mich bedeutet es zuallererst, aktiv an der Vermittlung anderer Kulturen beteiligt zu sein, den deutschsprachigen Lesern Literatur zugänglich zu machen, die sie sonst nie lesen könnten. Dass eine Übersetzung dem Original niemals vollkommen gleicht, ist uns Übersetzern selbstverständlich bewusst. Sonst wäre es tatsächlich so, wie es einmal ein Handwerker, der in meiner Wohnung zu tun hatte, formuliert hat: "Sie übersetzen Bücher? Dann brauchen Sie doch eigentlich nur abzuschreiben, was da steht - oder?" Aber so ist es ja nun leider oder auch zum Glück nicht. Denn genau in dem Spannungsfeld zwischen Ringen um Verstehen des Originals und Suche nach adäquaten Entsprechungen in unserer eigenen Sprache einerseits und andererseits dem immer neuen Erlebnis, dass Sprache lebendig und unbegrenzt formbar ist, liegt die Faszination des Übersetzens. Übersetzen ist eine kreative Tätigkeit, die von den Rezensenten nach wie vor zu wenig gewürdigt wird. Und leider ist es, vor allem im Rundfunk und Fernsehen, immer noch keine Selbstverständlichkeit, nicht nur Autor, Titel, Verlag und Preis der übersetzten Bücher zu nennen, sondern auch die Namen der Übersetzer!

Man hat das Übersetzen auch als die "Kunst des Verschwindens" bezeichnet. Wir wollen und dürfen uns nicht in den Vordergrund drängen, das Werk und sein Autor, seine Autorin stehen für uns immer an erster Stelle. Aber wir möchten auch nicht völlig unbemerkt verschwinden. Deshalb freue ich mich doppelt über diese Auszeichnung, denn sie lenkt die Aufmerksamkeit auch auf unsere Arbeit.

Und so möchte ich zum Schluss allen, die diesen Preis ermöglicht haben, von Herzen danken!





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Portugal-Post Nr. 35 / 2006


Karin von Schweder-Schreiner