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"Es waren Habichte in der Luft"
Reisenotizen zu einem Herbsturlaub auf den Azoren (2006)

Von Reiner Drees

"Es waren Habichte in der Luft". So heißt und beginnt Siegfried Lenz' Erstlingsroman von 1951, der im finnisch-russischen Grenzgebiet kurz nach dem ersten Weltkrieg spielt. Im Gegensatz dazu waren die Vögel, die die ersten Siedler etwa ab 1427 auf einer Inselgruppe im Atlantik vorfanden - rund 1.500 km westlich des portugiesischen Festlands und südlich des 40. Breitengrads, also etwa auf der Höhe Siziliens - keine Habichte, sondern Bussarde. Das wussten diese Seefahrer damals aber nicht, und so heißen diese Inseln heute eben Açores (Habichts-Inseln) anstatt busardos, was ja auch ganz apart geklungen hätte. Und es ist ein Mäusebussard, umringt von 9 goldenen Sternen, der die weißblaue Flagge der Azoren ziert (die nur zusammen mit der portugiesischen gehisst werden darf).

Die Azoren also. Die neun Sterne der Flagge stehen für die neun Inseln. Die Azoren erheben sich an der Stelle, an der sich der Mittelatlantische Rücken an der Bruchstelle zwischen der Eurasischen und Afrikanischen Platte im Osten und der Amerikanischen Platte im Westen im Atlantik aufwölbt. Nach ihrer Entstehung und Lage rechnet man Santa Maria und São Miguel zur Ostgruppe, Terceira, Graciosa, São Jorge, Faial und Pico zur Zentralgruppe und Flores und Corvo zur Westgruppe. Sie gehören zu Portugal, und damit ist die Westküste von Flores der westlichste Punkt Europas überhaupt. Der Abstand zwischen Flores im Westen und Santa Maria im Osten beträgt rund 600 km. Und auf Pico befindet sich mit dem Pico Alto (2.351 m) der höchste Berg Portugals; bedenkt man, dass er sich aus einer Tiefe von über 4.000 m unter dem Meersspiegel erhebt, kann man nach seiner Besteigung voller Stolz von seinem ersten "Sechstausender" erzählen.

Die ersten Siedler kamen, um eine neue Heimat zu finden - neben Portugiesen auch Flamen, Bretonen, Spanier; später auch Mauren, letztere allerdings unfreiwillig als Sklaven. Immer wieder ließen Hunger und Arbeitslosigkeit (und z.T. auch der politische Leidensdruck während der Diktatur unter Salazar), bis in die 70er Jahre des 20. Jh., viele Inselbewohner auswandern, zuerst nach Brasilien, dann auch in die USA und nach Kanada. Heute leben rund 240.000 Menschen auf den Azoren, dagegen rund 700.000 azoreanischer Herkunft in den Neuenglandstaaten und eine weitere große Zahl - man schätzt 300.000 - an der amerikanischen Westküste, so dass manch einer die USA inzwischen spöttisch "die zehnte Azoreninsel" nennt.

Dies allerdings könnte sich aus einem ganz anderen Grund schnell ändern. Zuwachs könnten die Azoren durch den weiterhin aktiven Vulkanismus erhalten - zwischen São Miguel und Terceira wächst der Vulkan Banco D. João de Castro heran; seine Kraterkappe liegt nur noch 12 m unter der Wasseroberfläche. Größere Ausbrüche, aber auch Beben, sind aus allen Jahrhunderten überliefert. Zuletzt wurden u.a. Terceira (am Neujahrsmorgen 1980 - 5.400 zerstörte Häuser, über 60 Tote) und Faial (1988) schwer getroffen. Niemand kann präzise den nächsten Ausbruch oder das nächste Beben, wenn sich die Platten wieder mal ein Stück verschieben, vorhersagen. Die beiden westlichen Inseln Flores und Corvo bewegen sich übrigens auf der Amerikanischen Platte mit einer Geschwindigkeit von rund 8 cm jährlich gen Westen auf die USA zu (schnell den Taschenrechner rausholen und ausrechnen, wann man trockenen Fußes in den Central Park gelangt! José Saramagos Steinernes Floß war erheblich schneller, und wie man weiß, prallte es zum Glück nicht mit den Azoren zusammen, sondern segelte dran vorbei).

Nachdem Walfang und Fischverarbeitung als Erwerbszweig keine oder keine bedeutende Rolle mehr spielen und ein Ausflug in den vorübergehend sehr lukrativen Orangenanbau (Mitte 19. Jahrhundert) durch eine Pflanzenseuche beendet wurde, arbeitet mehr als jeder Zweite inzwischen im Dienstleistungssektor. Die Landwirtschaft einschließlich verarbeitender Industrie beschäftigt rund 30% der Erwerbstätigen. Durch den EU-Anschluss Portugals flossen und fließen in letzter Zeit erhebliche Mittel auch auf die Azoren, die insbesondere ihre Infrastruktur seitdem deutlich verbessern konnten. Seit 1976 besitzen sie im Übrigen einen Status als Autonome Region mit Regierung in Ponta Delgada (São Miguel) und Regionalparlament in Horta (Faial).

Ein paar hardfacts und softfacts zu meiner Reise und den Vorbereitungen
Vorab: Als ich die Azoren zum ersten Mal sah, war ich 18 und verdiente mir während meiner Schulferien Geld auf einem Massengutfrachter, der auf dem Weg von Rotterdam nach Puerto Ordaz am Orinoco in etwa 20-25 Meilen Abstand die Azoren passierte. Nicht gerade vielsagend, der Anblick aus solcher Entfernung. Aber immerhin eine Erinnerung. Jetzt also nicht dran vorbei, sondern drauf.

Informativ und auch zuverlässig - soweit ich es für São Miguel selber beurteilen kann - war der Reiseführer Azoren von Michael Bussmann aus dem Michael Müller Verlag (3. Auflage 2006, EUR 19,90). Eine Azoren-Karte im Maßstab 1:75.000 (Turinta Lda.) gab's bei Dr. Götze in Hamburg am Alstertor für knapp EUR 10; für die Orientierung bei Tagesausflügen reichte mir der Maßstab völlig, vor allem sind auch Höhenlinien eingezeichnet.

Flugverbindungen: Man kann ab Hamburg low-cost mit TAP über Frankfurt oder München und Stopover in Lissabon fliegen (insgesamt zwischen 8 ½ und 13 Stunden) oder aber 1- bis 2-mal pro Woche ab München oder Frankfurt direkt mit einem Airbus A 320 der azoreanischen SATA in 4 ½ Stunden bis Ponta Delgada / São Miguel. Der Zeitunterschied zu den Azoren beträgt 2 Stunden. Pauschalangebote gibt es z.B. bei OLIMAR und DER-Tours, jeweils als Baukastenangebote (Flug, Hotel, Mietauto, Flughafen-Transfer, Ausflüge und / oder Rundreisen). Ein Stück billiger kann es über Last-Minute-Anbieter (z.B. l'tur) gehen, nur gibt es in der Hochsaison dafür keine Garantie.

Für den Azoren-Beginner ist São Miguel gleich mehrfach geeignet: Gut erreichbar, alles Azorentypische und viele Gestaltungsmöglichkeiten vorhanden - Wandern, Strand-Urlaub, Wassersport; oder City-Bummeln und Einkaufen in Ponta Delgada und gleichzeitig auch eine gute Basis fürs Insel-Hopping. Eine Woche ist ein ganz gutes Zeitmaß für diese Insel, falls man nicht sowieso nur rammdösig irgendwo in der Sonne brät - aber dafür reichte auch das Sonnenstudio in Winterhude (mir gefällt dieser Vergleich!). Für den Mindersprachbegabten reicht Englisch im Allgemeinen aus, auch bei Busfahrern oder wenn man nach dem Weg fragt. Die meisten Azorianer verstehen oder sprechen Englisch, aber meine portugiesischen Drei- und Fünfwortsätze sind genauso zuvorkommend auf Portugiesisch beantwortet worden.

Ich hatte eine Woche Zeit für die Azoren. Meine Reise ging am Sonntagmorgen per ICE von Hamburg bis Frankfurt-Flughafen (preisgünstiges Rail-and-Fly-Angebot), von dort 14:30 Uhr nach Ponta Delgada mit Ankunft 17:00 Ortszeit und am Sonntag darauf wieder zurück. Der Transfer zum Hotel - zumindest in Ponta Delgada - sollte im Preis eingeschlossen sein; separate Angebote in Katalogen sind überteuert, da die Entfernung vom Flughafen zur City nur 5 km beträgt und auch Taxis bereitstehen. Mein Standort war ein Hotel im Zentrum von Ponta Delgada. Ruhig und nur 300 m zum Wasser.

São Miguel erstreckt sich in Ost-West-Richtung über rund 65 km, die Breite beträgt etwa 16 km. Auf der Insel habe ich mich mit Linienbussen bewegt: z.B. fährt man zum Inselwesten nach Mosteiros (Fahrpreis pro Strecke EUR 2,81; es empfiehlt sich, Kleingeld dabei zu haben!) oder Sete Cidades rund 1 Stunde. Zu den caldeiras bei Furnas im Osten dauert es etwa 1 ½ Stunden. Letztlich muss man selber entscheiden, ob Zeitgewinn und Bequemlichkeit eines Mietautos den unmittelbaren Kontakt mit den Azorianern aufwiegt: 30 schnatternde und pubertierende Schulkinder unterschiedlichen Alters, die unterwegs auf dem Rückweg von Sete Cidades nach Schulschluss um 17 Uhr bei ihrer Zentralschule in den Bus steigen und dann Dorf für Dorf abgesetzt werden, oder die reiferen Frauen auf einer anderen Strecke, die mit dem auch schon älteren Busfahrer (Schnauzbart, Jeanshemd) schäkern - all das entgeht einem, wenn man in seiner eigenen Blechhülse bleibt. Einige Busse verraten übrigens ihre deutsche Herkunft als ehemalige Bahnbusse aus dem Rhein-Main-Gebiet, und Hinweisschilder in deutscher Sprache erklären zudem, wo der Notausstieg ist und verlangen Ausstieg in der Mitte - damit ist auch klar, dass eine Anzeige Wagen hält aufleuchtet, wenn man das Knöpfchen drückt.

Für mich durchorganisierten Großstadtmenschen mit hochgetakteter Arbeitsorganisation war das Busfahren gleichzeitig auch Entschleunigung: Wenn nur ein einziger Bus am Nachmittag zurückfährt und man deshalb zeitig genug an der Haltestelle ist und wartet, dann hat man Muße, der vorbeischlurfenden Bäuerin ein freundliches boa tarde zu entbieten (was sie ebenso freundlich erwidert), zu lesen oder einem Vöglein - kleiner als mein Daumen, kann aber im Gegensatz zu diesem fliegen! - nachzuschauen oder ganz einfach dem rasch wechselnden Wolkenhimmel eine Wettervorhersage für die nächsten 5 Minuten abzugewinnen, was gar nicht so einfach ist, wie es klingt.

Dieser Artikel hat nicht den Anspruch eines Reiseführers; den können und sollten Sie lesen, um sich zu informieren, falls Sie São Miguel oder eine der Nachbarinseln besuchen wollen. Vielleicht aber etwas Aktuelles: Ponta Delgadas Stadt-Promenade am Hafen ist zurzeit Großbaustelle. Am Hafenrand und in den Hafen hinein wird das Projekt Portas do Mar realisiert - Bagger, Rammen und LKWs dominieren optisch und akustisch den Tagesablauf, selbst am Samstag wird gearbeitet. Was im östlichen Teil bereits fertig gestellt ist (Marina, modernes Schwimmbad), findet seine Fortsetzung in einer - mit EU-Mitteln - aufgehübschten Promenade und einem Terminal für Passagierschiffe. Offensichtlich will man mit diesem Upgrading mehr Kreuzfahrtschiffe anlocken.

Nichts ist beständiger als der Wechsel (Schopenhauer)
Ein paar Worte zum Wetter. In fast allen Schilderungen über die Azoren findet man den blödesten Satz, jeder Tag habe hier vier Jahreszeiten. Richtig ist, dass es wie im Hochgebirge und auf hoher See (und da liegen die Azoren) schnelle Wetterumschwünge gibt. Das weiß man und darauf kann man sich einrichten. Wetterfeste Kleidung und gutes, festes Schuhwerk gehören ins Gepäck, wenn man wandern möchte. Wenn das Wetter grundsätzlich als unbeständig gilt, ist es eben auch eine Art von Beständigkeit: Beständig unbeständig eben. So what?

Unbeständig wird im Allgemeinen mit schlecht assoziiert; es heißt im Umkehrschluss aber auch, dass es schnell wieder aufklaren kann. Ich hatte Ende Oktober tagsüber Temperaturen von 20 - 22 ºC und meist wenig Wind, so dass ein kurzärmeliges Hemd zumeist reichte. Dass man beim Steilaufstieg zu Kraterrändern unterm Rucksack schwitzt und oben auf 600 m Höhe der Wind pfeift oder doch auch mal ein Schauer durchzieht - dafür kann man Vorsorge treffen. Die Feinjustierung, ob einem beim Laufen kalt oder warm ist, kann man genauso gut übers Tempo regeln. Na gut, mal hingen die Wolken auch bis 200 m tief (was ich anhand meines Standortes und den in der Karte eingezeichneten Isohypsen feststellen konnte). Aber in Ponta Delgada saß ich dann kurz darauf wieder an einer der kleinen Bars, die dort entlang der Promenade am Hafen auf der Wasserseite gebaut worden sind, gläserne Pavillons mit sieben, acht Tischchen davor - meine Füße hochgelegt auf das Promenadenmäuerchen, das Gesicht der milden Sonne entgegengestreckt: Was interessieren einen dann noch Isohypsen oder Wolken am anderen Ende der Insel! Die Wassertemperaturen lagen übrigens bei rund 20 0C; im Herbst wirkt der Atlantik noch lange als Wärmespeicher.

Es gibt kein Bier auf Hawaii und andere Trinklieder
Singenden oder gar grölenden Touristen bin ich nicht begegnet. Ganz ohne jegliche Überheblichkeit: Ich finde es gut, dass es bei uns in Europa ein solch breites Angebot an Urlaubszielen gibt. Die, die es nach Torremolinos oder zum Ballermann (auf Malle) zieht, treffen nicht mit den Azoren-Liebhabern zusammen, und so kommt jeder zu seinem privaten Urlaubsglück. Hoffentlich bleibt das auch so für die Azoren, denn alle Zentren des Massentourismus waren mal Geheimtipps. Aber wenn schon Trinklied, dann Fuchs-Du-hast-die-Gans-gestohlen. Was - das sei kein Trinklied, sagen Sie? Na, dann nehmen Sie mal eine hochschultrige Rotweinflasche (Bordeaux-Typ), entkorken sie und schenken sich - ganz mucksmäuschenstill - das erste Glas ein. Und was singt Ihr Rotwein? Na seh'n Se!

Weine von den Azoren sind nicht unbedingt billig und stehen nicht auf jeder Getränkekarte. Eher bekommt man portugiesische vom Festland angeboten. Die lokalen Weine, die ich probierte, rote wie weiße, waren zwar keine Hochgewächse, aber ehrliche Alltagsweine, die immer zum jeweiligen Essen passten.

Ein Wort noch zu anderen Touristen auf der Insel: Nachdem ich unglaublich viele schwedische Reisegruppen angetroffen habe, weiß ich endlich, warum deren Heimat Schweden als dünn besiedelt gilt. Alle zumeist schon älter (das sagt man immer von den anderen), und keiner von denen hat gesungen.

Coração?
Mögen andere gern behaupten, man könne genauso gut eine Nebelmaschine aus der Disko, die Windmaschine aus dem Theaterfundus und die Gartendusche aus dem Baumarkt zusammenschließen - das sei billiger als eine Reise auf die Azoren! Meine berufliche Welt besteht zwar aus Zahlen, Controlling und Effizienz. Aber etwas in meiner DNA durchbricht diese Grenzen: Ich brauche nur 5 Minuten dort zu sitzen, wo es nach Atlantik riecht und man das Maschinengeräusch von Schiffen hört - schon stellt sich bei mir innere Seeligkeit ein. Und auch oder gerade deshalb habe ich die Azoren in mein Herz geschlossen: Coraçores!

Habichte in der Luft habe ich nicht gesehen, nicht einmal Bussarde, aber Möwen.







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Portugal-Post Nr. 38 / 2007


São Miguel - Hafen

Ponta Delgada / São Miguel - Blick auf Hafen und Stadt, von der südlichen Hafenmole aus gesehen




São Miguel - Baustelle

Furnas / São Miguel - hier blubbert, dampft und stinkt es aus dem Untergrund



São Miguel - Caldeira

Eine der Caldeiras an der Lagoa das Furnas / São Miguel - hier wird in Erdlöchern der cozido gegart, ein Eintopf aus drei Sorten Fleisch, Würstchen, Kartoffeln, Yams und Kraut. Mit dem Band werden die Töpfe nach oben gezogen und dann zu den Restaurants gebracht. Die Mineralstoffe geben eine besondere Geschmacksnote.