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Das Ei des Columbus

Von Horst Köpcke

Es ist bald dreißig Jahre her, da gab es an der Deutschen Schule Lissabon (DSL) ein besonderes Ereignis. Wieso besonders, wird man fragen. "Besondere Ereignisse" gibt es schließlich an einer Schule in jedem Jahr. Warum sollte man sich an dieses "besonders" erinnern? Ich werde versuchen, es zu erklären.

Zu jener Zeit war Portugal faschistische Diktatur und die deutsche Schule eine Enklave freierer Denkungsart, die es sich leistete, ihre Schüler mit Themen, Denkweisen und Anschauungen zu konfrontieren, die "draußen" tabu oder gar strafbar waren. Es gehörte zum guten Ton, überkommene Werte in Zweifel zu ziehen, sie kritisch zu analysieren und auf das Solide, Vertretbare zu befragen. Es versteht sich von selbst, daß die meisten der jungen Leute, die uns Lehrern aus Deutschland anvertraut waren, in dieser frischeren Luft befreit aufatmeten, denn sie spürten, daß sie aus einer Richtung herwehte, der die Zukunft gehörte.

In jener Zeit also gab es an der Deutschen Schule zwei Lehrer, die eine glückliche Konstellation zusammengeführt hatte; denn neben den Fächern, die sie unterrichteten, trieb sie die Liebe zum Theater um, und sie ergänzten sich insofern vortrefflich, als der eine mehr der Musik, der andere mehr dem Dramatischen verpflichtet war. Das führte in den Jahren 1966-68 zu diversen musikdramatischen Aufführungen, wie sie an vielen Schulen üblich sind, also nichts ,,Besonderes" darstellen. Es handelte sich dabei um konventionelle singspielartig verarbeitete Stoffe, harmlose Geschichtchen, hübsch verpackt, artig dargeboten.

Inzwischen aber gingen in Deutschland und Frankreich die Studenten auf die Straße, die Pflastersteine flogen, es wurde geprügelt, geschossen, gar getötet. Dem "Muff von tausend Jahren" wurde der Kampf angesagt. Konnte da unsere Schule unbeteiligt bleiben? Mußten wir da nicht auch Zeichen setzen?

Ein erster Versuch war die Abiturabschlußfeier der 09 im Juni 1968, die unter dem Motto stand "Politik in der Schule". In ihrem Mittelpunkt standen Szenen aus Dürrenmatts Stück "Der Stall des Augias", das die Reinigung des Staates vom Müll der Geschichte zum Inhalt hat, und zu geteilten Reaktionen führte. Die deutsche Botschaft reagierte empört, der österreichische Botschafter,dessen Sohn Schüler der Abiturklasse war, vermittelte, der Autor dieser Show und Klassenlehrer der 09, bekam einen Eintrag in die Personalakte.

Dann kamen die Ferien, glorreiche drei Monate im Sommer Portugals Was tut ein Lehrer während dieser Zeit außer am Strand liegen? Er liest. Er denkt nach über vieles, auch darüber, was er im nächsten Schuljahr mit den Schülern anstellen wird. Und er spricht darüber mit Kollegen, die das gleiche Thema beschäftigt. So geschah es auch mit den beiden Musik-Dramatikern, eben Klaus Richter und dem Verfasser dieser Geschichte. Es galt, dem Zug der Zeit folgend, einen Stoff zu finden, der sich den Themen stellte, die sich der Phantasie und dem Engagement der akademischen Jugend bemächtigt hatten, aber möglichst ohne den herrschenden Verhältnissen zu deutlich den Spiegel vors Gesicht zu halten. Die Dürrenmatt-Episode hatte vorsichtig gemacht. Da hatte Klaus Richter einen genialen Einfall: Es gibt ein Kinderlied, das auf witzige Weise die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus zum Thema hat und das zunächst durch seine anachronistischen Verdrehungen und seinen kindlichen Refrain ,,Witte-witte-witt juchheirassa ..." harmlos genug aussieht. Hieran nun entzündete sich die Phantasie der beiden Ränkeschmiede. In mehreren Sitzungen bildete sich eine dramatisierbare Hndlung, in die wie zufällig, im Laufe des Geschehens immer deutlicher, kritische Themen angesprochen werden sollten: Generationskonflikt, Autoritätsmißbrauch, koloniale Ausbeutung.

In diesem Stadium der Konkretisierung begann das neue Schuljahr. Eile war geboten. Also einigte man sich auf Arbeitsteilung: hie die Musik - da die Dramatisierung und Texterstellung , mit gelegentlichen Über- und Eingriffen in den jeweils anderen Bereich. Für den dramatischen Ablauf ergab sich folgendes Bild:

I. Akt:
Im Hause des Kolumbus herrscht eine ungute Atmosphäre. Der Sohn wirft dem Vater Vergreisung und Unfähigkeit vor, Amerika zu entdecken. Da läßt sich der König von Spanien Ferdinand II. anmelden, der Kolumbus die Entdeckung Amerikas aufträgt.

II. Akt:
An Bord der Caravelle Santa Maria; der Kapitän ist ein Menschenschinder, der seine Manschaft ausbeutet. Meuterei, angeführt von Kolumbus' Sohn, der sich als schwarzer Passagier an Bord geschlichen hatte. Nur der Ruf des Ausgucks "Land in Sicht!" rettet die Situation.

III:Akt:
Empfang durch die Indianer, Verlesung der Anordnungen der Invasoren zur Ausbeutung der neuentdeckten Kolonie; Organisierung von Widerstand durch den Sohn Kolumbus' Ende offen

Der Titel sollte "Das Ei des Columbus" sein.
Schon diese Synopse macht deutlich, wo sich möglicher Konfliktstoff befindet, über den man heute vielleicht nur milde lächeln würde (was durchaus nicht sicher ist!), der damals jedoch, nicht nur wegen der obwaltenden politischen Verhältnisse, sondern auch wegen der geographischen Nähe der beiden iberischen Diktaturen und nicht zuletzt wegen der noch stark traditionalistischen Familienstrukturen in Portugal für Wirbel sorgen konnte.

Nachdem der I. Akt und Teile des II. mit den dazugehörigen Couplets, Songs und Ensemblesätzen fertig waren, gab es vom 26. bis zum 30. Oktober einen Probenaufenthalt in der Jugendherberge von Sagres. Die jungen Leute waren begeistert von dem vorliegenden Material und stimmten zu, als wir ihnen vorschlugen, in Arbeitsgruppen Texte für die Matrosen- und Indianerszenen zu erarbeiten, die dann in das Stück eingebaut werden sollten. Der Schüler, der die Rolle des Sohnes übernommen hatte, schlug vor, den bereits vorliegenden Text "Ach, was hab' ich zu ertragen" selbst zu vertonen und sich bei dem Vortrag auf der Guitarre zu begleiten. Die Vorstellung, an der Autorenschaft unserer Produktion beteiligt zu sein, beflügelte noch den Enthusiasmus der Schüler und trug dazu bei, daß sie die Sache zu ihrer eigenen machten.So ging die Arbeit fort. Es war faszinierend, den Text entstehen zu sehen, während an den fertigen Teilen schon szenisch gearbeitet wurde. Ich glaube, es war das begeisterte Engagement der Schüler, das den Verfasser zu einer kompromißlosen Verschärfung des Schlusses animierte: der Sohn nimmt seinen Vater gefangen und stellt ihn vor die Alternative: hängen oder ohne Karten und Verpflegung zurück nach Spanien. Der Vater wählt das Letztere.

Außerdem schwingt der Sohn sich zum Despoten auf, indem er die Indianer zwingt, ihm bedingungslos zu gehorchen, um auf eine eventuelle Rückkehr des Vaters vorbereitet zu sein. ,,Wir opfern die Freiheit um der Freiheit willen", ist seine Begründung. So nimmt das Stück am Schluß eine scharfe Wendung, die zunächst gar nicht beabsichtigt war. Aber der Stoff entwickelte seine eigene Dynamik, so daß der Sohn, zu Beginn nur pubertierender Aufbegehrer gegen alles Überkommene zur beherrschenden Figur der Handlung wird und schließlich Opfer der gleichen politischen Grundmuster, die er vorher bekämpft hatte.

Der Termin der "Welturaufführung", wie sie mit falscher Bescheidenheit genannt wurde, war der 14.5.1969. Die Aula war bis auf den letzten Platz gefüllt, denn vom Unterstufenchor, der zur Begrüßung Columbus' eine kanonisierte Version des Ursprungsliedes sang, bis zu den Matrosen und Indianern und dem begleitenden Orchester war ein großer Teil der Schülerschaft auf der Bühne zu bestaunen, und folglich war das Interesse groß. Das Publikum reagierte zunächst etwas zurückhaltend, denn die verfremdete, das Historische nur als Aufhänger benutzende Version der Entdeckung Amerikas wirkte naturgemäß verunsichernd. Doch als der spanische König im Kostüm eines Börsenjobbers aus den 20er Jahren auftrat und quasi ins Mikrophon kroch, und seine Begründung für das geplante Unternehmen mehr gurrte als sang

"Denn das Wohl der Menschheit,
Daß ich es nicht verhehle,
Brennt mir wie Feuer auf meiner Seele."


war endlich das Eis gebrochen. Es gab fortwährend Szenenapplaus und viel befreiendes Lachen. Erst gegen Ende wendete sich die Stimmung, denn mit der Verschärfung des Vater-Sohn-Konflikts hatte wohl niemand gerechnet. Der Schlußchor, vom gesamten Ensemble gesungen, enthielt dann das Fazit unseres Spiels:

"Das Recht ist immer bei den Stärkeren,
Das Nachsehn haben nur die Schwächeren,
Wo Kanonen regieren,
Muß sich alles formieren
In Marschkolonnen,
In Jubelchor.
Seht euch vor!
... "


Die stehenden 0vationen, die die Aufführung belohnten und zu einigen Zugaben führten, wurden von den Autoren mit Erleichterung registriert. Offenbar war die Verpackung der brisanten Themen in einen verballhornten Kindertext gelungen.

Aber wir sollten uns noch wundern. Zunächst erschien.in der Zeitung O Século eine positive, aber eher beschreibende Kritik, die schloß mit: "...uma merecida salva de palmas premiou o esforço dos jovens actores - muitos dos quais, claro, portuguesíssimos", und der Vater einer beteiligten Schülerin schrieb unter anderem: "...Das nenne ich eine wirklich gute und moderne Kunsterziehung der Deutschen Schule. Sie haben damit den Erweis erbracht, daß Sie die psychologischen Aspekte und Probleme unserer heutigen Jugend verstehen und zu würdigen wissen... Ich kann nur wünschen, daß die Deutsche Schule Lissabon diese Linie beibehält."

Auch im Kollegium wurde, jedenfalls von den meisten, große Zustimmung geäußert. Hintenherum wurde zwar einiges gemunkelt (historische Taktlosigkeit gegen das Gastland, psychologische und emotionale Überforderung der Schüler u.ä.), offene Kritik wurde nicht geübt. Typisch? Es wurde im Gegenteil der Wunsch nach einer Wiederholung laut für die Vielen, die das Stück nicht sehen konnten und jene, die es ein zweites Mal sehen wollten. Die Schulleitung war zwar nicht begeistert, "weil das alles zu viel Unruhe in den gewohnten Unterrichtsbetrieb bringen würde", als aber die beteiligten Schüler nach Befragung begeistert zustimmtem, wurde flugs ein zweiter Aufführungstermin vier Wochen später, für den 14.6., festgelegt. Doch da geschah Unerwartetes: der Textverfasser bekam eines Abends den Anruf des Vaters jenes Schülers, der die Titelfigur spielte, sein Sohn könne die Rolle nicht noch einmal spielen, da er Herzprobleme habe und die Aufregungen einer weiteren Aufführung ihm nicht zuzumuten wären. Und kurz darauf kam der Sohn des Columbus, um niedergeschlagen mitzuteilen, sein Vater habe ihm verboten, bei der Wiederholung mitzuwirken

Das schlug wie eine Bombe ein. Also gab es doch starke negative Reaktionen, die nur nicht an unser Ohr drangen, sich lediglich durch diesen Druck der Eltern auf ihre Kinder manifestierten. Was tun? Aufgeben? Nein! Es wurde schnell ein Schüler gefunden, der die Rolle des Sohnes übernahm. Leider fehlte es ihm etwas an Biß, so daß man ihm die Wende am Schluß nicht so ganz abnahm. Aber wer sollte die Titelrolle übernehmen? Es fand sich niemand, der den Mut hatte, sich das zuzumuten, so daß schließlich erneut von Aufgeben die Rede war. Bis einer aus der Schülerschaft den Verfasser des Textes vorschlug, der schließlich bei allen Proben dabeigewesen war und den Text fast auswendig kannte. Es half kein Sträuben; wenn das Unternehmen gerettet werden sollte, war das die einzige Lösung.

Und so geschah's. Die zweite Aufführung fand wieder vor vollem Haus statt, nur war das Publikum diesmal anders zusammengesetzt. Es schienen alles in allem mehr Schulfremde zu sein, die durch die Gerüchte, die um das Stück im Umlauf waren, angelockt worden waren. So war der Szenenapplaus oft verhaltener, nachdenklicher, gegen Ende. gar schien sich eine große Spannung im Saale zu verbreiten, die dazu führte, daß nach dem Verklingen des letzten Akkords des Schlußchores zunächst alles still blieb. Der Beifall, der dann einsetzte, schien alle zu befreien von der bedrückenden Konsequenz des Schlusses und gab der Freude Ausdruck über ein im Großen und Ganzen gelungenes Unternehmen.

Aber es gab noch das unvermeidliche Nachspiel. Am nächsten Morgen konnte man schon durch die geschlossene Tür des Lehrerzimmers eine heftige Diskussion hören. Der Wortführer war der Pater, der zu jener Zeit den katholischen Religionsunterricht betreute. Er wetterte, daß in dem Stück die Rolle der Kirche und der Obrigkeit grob entstellend dargestellt sei und daß der immense zivilisatorische Einfluß, der mit der Ausbreitung der europäischen Kultur verbunden war, nur eine ironisch-abwertende Erwähnung fände. Das würde doch in den Augen der jungen Leute ein ganz falsches Geschichtsbild ergeben, und dafür dürften Lehrer sich auf keinen Fall hergeben.

Begründete Kritik? Aber jetzt war die Katze endlich aus dem Sack. Es formierten sich zwei Fraktionen, die einander heftig befehdeten, und dazwischen standen die beiden Autoren, die sich heimlich darüber freuten, daß endlich viele Dinge benannt wurden, über die man sonst nur mit vorgehaltener Hand oder gar nicht sprach.

Also traten sie die Flucht nach vorne an: es würde für den 18.6. eine öffentliche Podiumsdiskussion anberaumt, die im Hörsaal der Naturwissenschaften stattfinden sollte, und zu der jeder eingeladen war, der sich zu den anstehenden Themen äußern wollte. Und es kamen viele: Schulleitung, Kollegen, viele Schüler, sogar einige Eltern, der Hörsaal war bis auf die oberen Plätze hinauf voll besetzt, und es wurde heftig debattiert. Ich zitiere aus den Erinnerungen von Klaus Richter: " ... symptomatisch aber war die Diskussion insofern, als wir hier an einem Tabu nicht nur der Kirche, sondern vor allem Portugals gekratzt hatten, wobei es gleich war, daß Kolumbus mit seinen Plänen vom portugiesischen König weggeschickt worden war. Wurde der Glorienschein über den Häuptern der großen. Entdecker angekratzt, dann verlor auch die portugiesische Geschichte etwas an Glanz - und der war doch zur Aufhellung des ach so trüben Gegenwartsalltags so arg nötig!"

Ein weiteres Nachspiel hatte dieses ganze Unternehmen nicht, aber es blieb für eine lange Zeit das "besondere Ereignis" an der DSL, die damit ein weiteres Mal ihre wichtige Funktion im portugiesischen Kulturleben unter Beweis gestellt hatte.





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Portugal-Post Nr. 6 / 1999