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A doença da serra
Durch die Bergwelt Portugals (1.Teil)

Von Rudolf Malkmus

Um es gleich eingangs klarzustellen: als wir – mein Freund Frank und ich – den Rucksack packten, waren wir frei vom Druck, uns gegenseitig zeigen zu müssen, zu welchen bergsteigerischen Leistungen wir fähig waren. Wir wollten wieder einmal Gebirge erleben ohne die Belästigung der sogenannten "Hüttenruhe", ohne fürchten zu müssen, von den Prahlereien sogenannter "echter Bergsteiger"” bedrängt zu werden. Wir wollten einmal ein wenig mehr aus dem unerschöpflichen Erlebnispotential "Berg" herausholen, als uns nur auf eine Felswand fixieren, als uns nur mit unseren eigenen Ängsten beschäftigen, die um unsere seelisch-geistigen Fähigkeiten, die Tauglichkeit des eingesetzten Materials und die drohenden objektiven Gefahren kreisen und die uns blind und taub für die ganze Fülle an Herrlichkeiten machen, die es zu entdecken gibt.

Und weil wir unsere Schwächen kannten, wählten wir ein Land, in dem man ihnen mangels Gelegenheit gar nicht nachgeben kann, ein Land, in dem der Kletterer lediglich an ein paar marinen Klippen und Canyonwänden herumhantieren kann, der Bergwanderer jedoch ein Eldorado vorfindet: Portugal!

Wer hier, am Rande des europäischen Kontinents, bergwandert, tut allerdings etwas, was den dort Heimischen unbegreiflich ist. Es gibt keine markierten Wege, keine Wanderkarten, keine Schutzhütten, keine Literatur in Form von "Bergführern". Die Reiseführer erschöpfen sich in kulturorientierten Routenvorschlägen. Wir bewegen uns in einem bergsteigerischen Niemandsland und begegnen eher in Nepal, in den Anden oder auf Afrikas Bergriesen unseresgleichen als in Nordportugals Gebirgen. Wir werden uns also mit sich in der Macchia verlierenden Hirtensteigen und topographischen Uraltkarten begnügen müssen; wir werden mal hier ein Zelt aufschlagen, dort in einer Hirtenhütte oder bei einer Bauernfamilie nächtigen.

Bei so viel Ungewißheit ist es ratsam, seinem Unternehmen eine geistige Stütze zu verleihen. Calma! sagt der Portugiese, wenn er meint, man solle ruhig bleiben, den Dingen ihren Lauf lassen. Calma! sollte daher unser Bannwort sein gegen alle etwa aufkommenden Verhaltensmechanismen aus unserer streßgeplagten Arbeitswelt.

Außer dem geographischen Ort mit einigen Zielpunkten und einem Treffen mit einem Freund planten wir also nichts und ließen den Dingen, die auf uns zukamen, ihren freien Lauf. Zu einer Art Zeitbewußtsein verpflichtete uns lediglich das Rückflugdatum. Mitte Mai, zur Zeit der vollen Entfaltung der Natur, zogen wir also in die Berge hinauf.

IN DER SERRA DA ESTRELA
Ausgangspunkt war Manteigas am Ostrand der Serra da Estrela (Sternengebirge), dem mächtigsten Granithorst unter den zahlreichen Plateaugebirgen des Landes. Es erreicht im Torre (1991 m) die höchste Erhebung Festlandportugals (da zu Portugal auch die Azoren gehören, ist der Vulkan Pico mit 2351 m auf der gleichnamigen Insel der höchste Berg des Landes).

Durch den Bilderbuchtypus eines eiszeitlichen Trogtales, den die kristallklaren Fluten des Rio Zêzere durchbrausen, steigen wir in die weite Verebnung der Quellschüssel dieses Flusses hinauf – ein Platz, auf dem sich Zelte fast wie von selbst entfalten: saftgrüner Wiesenteppich, verschlungenes Mäandergewirr zahlloser Quellen und Tümpel, umschlossen vom Rund felsiger Steilflanken, die nur einen Durchlaß aufweisen: den schluchtartigen Einriß des zu Tal stürzenden Zêzere. Wie Gold fließt die Farbe des Ginsters die Hänge herab ins Purpurviolett des Heidekrauts und verliert sich in flechtenbeklecksten granitenen Schutthalden.

Mit einbrechender Dämmerung füllt sich der Talkessel mit feuchter Kaltluft. Zusammengetragenes Baumheidegeäst will nicht brennen. Das Holz ist eisenhart und zäh wie das unserer Latschen. So kriechen wir fröstelnd ins Zelt und schlummern beim Murmeln der Quellen rasch ein.

Um einerseits dem ausgekühlten Körper Wärme zuzuführen, andererseits die Steilflanke zum Plateau zu überwinden, bevor die Sonnenglut den Aufstieg zur Qual macht, brechen wir bereits im Morgengrauen, als die Mondsichel noch blaß am Himmel hängt, das Zelt ab. Die Schlüpfrigkeit des taunassen Grases hatten wir ebenso wie die Steilheit des Hanges erheblich unterschätzt, so daß uns im oberen Drittel die Sonne doch noch den Schweiß aus allen Poren treibt.

Wir halten uns scharf rechts, war doch abgemacht, die Plateaustraße zu meiden. In etwa 1850 m Höhe übersteigen wir eine Felsrippe, hinter der sich ein grandioser Blick eröffnet – eine geradezu skandinavische Landschaft! Bis zum Horizont dehnt sich eine gewaltige Plateaufläche, strukturiert durch die Meisterhand des Landschaftsgestalters Eiszeit: hier steigen stufig in amphitheaterhaften Halbkreisen mächtige, gletschergeschliffene Felsbänke die Hänge hinab, dort blitzen im Sonnenlicht Schwärme kleiner Seen, wie von Riesen zwischen die archaischen Skulpturen düsterer Felsburgen aus Granit gestreute Silbertaler; alles gebettet in die weit ausgerollten grünen Samtteppiche der Triften, dunkel gemustert mit den Diskusscheiben eigentümlich flachwüchsiger Wacholderbüsche. Ein belebender Wind trägt uns den zarten Mandelduft der blühenden Baumheide herauf und – ein Adler zeigt uns, was wir uns hier wünschten – Flügel!

Dort unten am Ausfluß eines Sees lassen wir uns für drei Tage nieder, mitten unter den Konzertmeistern der Wasser- und Laubfrösche. Wir haben kein Ziel; es sei denn, mit den tausend Wesen des Berges zu atmen, zu empfinden. Und so gewinnt alles, was uns begegnet, an Bedeutung, ist des Verweilens wert: der warme Fels mit den Haarrissen, die wie die Lebenslinien einer Menschenhand seine Oberfläche furchen; die gelbviolett-blau-weißen Blütenschönheiten und ihre zartflügeligen Insektengäste; das weiche Moos; der Sphärenklang des Grillengetöns und die in die blaue Himmelskuppel verschwebende Weite.

In der mittäglichen Sonnenglut lege ich mich in den Halbschatten einer Baumheide. Und plötzlich, ganz ohne Anstrengung, empfinde ich eine eigentümliche tiefe Zustimmung der Seele mit allem, was sie hier umgibt. Mir ist, als würde sie sich gleich einer Eidechse auf warmen Steinen hinräkeln, die Gliedmaßen von sich strecken, die Rippen spreizen; selbst Teil dieser Natur. Der prüfende Verstand,. die Helle des Bewußtseins sind eingeschlummert, alle Empfindungen sammeln sich in einer Traumwelt der Gefühle.

Doch solche Entrückung hat auch ihre Tücke. Plötzlich atme ich den Geruch frischen Blutes, die Frösche beginnen bedrohlich zu knurren – ein dumpfer Schlag, jämmerliches Gewinsel und wilde Flüche. Verwirrt springe ich auf. Ein Hirte verfolgt prügelschwingend ein fast kalbsgroßes Ungeheuer, das mich aus ziemlicher Nähe in Augenschein genommen haben mußte. Schlagartig wird mir bewußt, in welcher Gefahr ich geschwebt hatte. Calma befehle ich dem verspätet einsetzenden Herzjagen und einer Situation, für die es eigentlich gar nicht gedacht war.

Inzwischen kommt der Hirte wieder zurück; kleinwüchsig, sonnenverbrannt und ausgemergelt, in einem mächtigen Schafsfell fast versinkend, entschuldigt sich tausendmal mit verlegener Freundlichkeit und befördert schließlich mit geübtem Griff eine Flasche zutage: ein Schluck Bagaço mit Wacholderzweig – der Estrela-Gin – sollte unsere Freundschaft besiegeln, verbrannte mir indessen für einige Stunden die Kehle.

Nach drei Tagen packen wir unseren Kram wieder zusammen und ziehen weglos über das Plateau nach Osten. Die Lerchen hängen jubelnd über der Felsheide und aus allen Gesteinsrillen lugt der Bergfrühling mit glühenden Blumenaugen. Ganze Schwärme zierlicher Reifrocknarzissen ziehen ihren Reigen um Stechginster und Zistrosenhecken, und manche Wiesen sind blau von Enzian, Glockenblume und Steinsame.

So erreichen wir die Quellfassung des Rio Mondego, dem einzigen größeren Fluß Portugals, der im Lande selbst entspringt, überqueren eine Straße, die am nahen, bereits 1882 erbauten Wetterobservatorium vorüberführt und beabsichtigen, dem Mondego folgend, das Sternengebirge zu verlassen.

Plötzlich, wie aus dem Boden entsprungen, ist einer der großen Estrelahunde neben uns. Kurz darauf sind es derer neun! Wir sprechen betont emotionslos, mehr uns selbst beruhigend, als den Stolz der Hirten, der uns hier hechelnd umdrängt. Aber da nützt alles ,,calma” nichts, wenn dir die feuchten Schnauzen der hochgezüchteten Wolfskiller gegen die Hüften puffen, wenn jede deiner Bewegungen mit stechendkalten Lichtern registriert wird. Die Angst projiziert dir unerbitterlich klar die Fänge mit überdimensionierten Dolchzähnen ins Gehirn. Immer wieder siehst du deine abgenagten Knochen zwischen den Felsen bleichen. Als vom Gegenhang heiseres Gebell herüberklingt, kommt plötzlich Unruhe in die Rotte und sie entschwindet so schemenhaft, wie sie gekommen war. Auf einem schwer zugänglichen Felstisch genehmigen wir uns wortlos und etwas blaß eine ausgiebige Stärkung.

Da wir durch den Vorfall in undurchdringliches Baumheidegestrüpp abgedrängt worden waren, erklommen wir in einem kräfteraubenden Anstieg den Gegenhang, um einen Überblick über den Fortgang unseres Unternehmens zu gewinnen. Erst einige Kilometer talwärts konnten wir auf einem Pfad den Ufern des Mondego folgen. Bis in 1400 m Höhe hatten hier die Bergbauern einer unwirtlichen Natur Fläche abgerungen und in winzigen Parzellen Getreidefelder angelegt.

Im Gleichschritt ging es zügig bergab. Zu spät bemerkten wir, daß das Tal sich immer mehr verengte und der Steig sich auf einen Felsvorsprung, der sich zwischen Mondego und einem Nebenbach hinausschob, verlor. Das nächste Dorf hätte sich, wenn überhaupt, nur noch in Form eines Gewaltmarsches erreichen lassen. Wir beschlossen daher, unser Lager am Fluß aufzuschlagen. Inzwischen waren wir in die Schieferformation übergewechselt; das Wasser hatte hier prachtvoll übereinandergestufte Kessel ausgefräst, durch in Drehung gehaltenen Schutt glattpoliert und Maserungen freigelegt, als seien die Wände mit Eichenfurnieren ausgekleidet.





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Portugal-Post Nr. 7 / 1999


Serra da Estrela
Foto: Christel Lauritzen