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A doença da serra
Durch die Bergwelt Portugals (2.Teil)

Von Rudolf Malkmus *

Rio Douro
Am nächsten Morgen erreichten wir erschöpft, doch wohlbehalten Celorico da Beira und fuhren mit einem Bus nach Freixo am Rio Douro.Dort erwartete uns unser Freund João. In der für einen Portweinhändler typischen Mischung aus südländischer Herzlichkeit und gönnerhafter Herablassung komplimentierte er – immer wieder scherzend, umarmend, schulterklopfend zwei schon ziemlich verwilderte Gestalten in seine Quinta (Landgut). Ihr luxuriöses Interieur war zwar mit unseren Reisevorsätzen, die sich an einer bescheidenen Lebensweise orientieren wollten, nicht in Einklang zu bringen; aber man soll das Leben nicht in Prinzipien ersäufen.

Die Nacht mit einem überfüllten Magen war indes weniger erholsam, und so trat ich bereits in der grauen Morgendämmerung vor die Quinta. Drüben, über die spanische Meseta von Salamanca, legte die junge Sonne soeben ihre erste Röte, und der Canyon des Douro teilte wie eine abgrundtiefe schwarze Falte die bleigraue Weite der Landmasse. Ein köstlich erfrischender Lufthauch, voll vom Duft blühender Orangenbäume strich vom Tal herauf. Jämmerlich mühten sich einige Hähne damit ab, in die große Stille, die den Raum erfüllte, einzudringen. Ein Hund schlug an, irgendwo antwortete die verröchelnde Klage eines Esels. Im Haus begann es zu rumoren. «Estamos prontos!» (Wir sind soweit!) Joãos Stimme dringt klar in die bisherige Unentschlossenheit der Geräusche. Nach einem überreichen Frühstück steigen wir 300 m tiefer zur Anlegestelle von Joãos Boot, das uns in den Douro-Canyon bringen soll.

Für dieses Unternehmen hatte uns João zwei handsame Pferdchen zur Verfügung gestellt, und wie wir so ins Land hinausritten im Rhythmus der klappernden Hufe - mit jedem Schlag ein Staubwölkchen -, die mauergestützten Abgründe entlang, vorbei an Felshütten, aus deren Fensterhöhlen das scheue Lächeln schwarzäugiger Senhoras grüßte, wie uns das Land so entgegenflog, wie unsere Pferdchen so stolz an ihren minderen Brüdern, den schwerbeladenen Eseln, vorbeitänzelten, da kam ich mir vor wie Don Quixote mit seinem beleibten Kumpan. Und in der Tat: von der Gestalt her gaben wir die perfekte Nachbildung des spanischen Volkshelden und seines Begleiters ab.

Links Portugal, rechts Spanien tuckerten wir vier Stunden lang den Douro hinauf. Kein Boot kein Mensch, nur die ungeheuren Granitwände des Canyons und von Felshalden überschüttete Steilhänge, in denen sich die knorrigen Gestalten von Wacholder, Steineichen und Zürgelbäumen festkrallten. Unter die überhängenden Felsgalerien, in die ein Künstlertitan seine Skulpturen gemeißelt hat, treffen soeben die ersten Strahlenfinger der Morgensonne die bizarren Kandelaber einiger taufeuchter Korkeichen. Dampf hüllt die mächtigen Kronenschirme ein, in denen Pirol, Nachtigall und Bienenfresser zum dumpfen Takt des Wiedehopfes um die Wette flöten. Das schmale Band der Himmelsbläue über uns durchziehen in majestätischer Ruhe Milane, Geier, und unter einem Felsdach äugt mißtrauisch ein Schwarzstorch aus seinem Horst auf den ungewohnten Besuch.

Wo in Europa gibt es einen Strom von ähnlicher Großartigkeit? Und diese Landschaft steht nicht einmal unter Schutz. Ihre Unberührtheit ist vornehmlich das Produkt zweier bis vor kurzem verfeindeter Nationen, die in ihren Grenzzonen über acht Jahrhunderte hinweg einen möglichst wilden, schwer zugänglichen Zustand pflegten. Schließlich steuern wir einer Anlandestelle zu. João breitet auf einer Decke unter einem wilden Feigenbaum all die Köstlichkeiten eines lusitanischen Schlemmers aus, und bald machen die erlesensten Tropfen aus Portos Keller die Runde. Als wir unserem Freund den Vorschlag unterbreiten, einen Verdauungspaziergang die Canyonflanke hoch zu unternehmen, verliert er kurz die Fassung, und es kommt etwas Verständnislos-Mitleidiges in seine Gesichtszüge. Wir sollten uns davon nicht abhalten lassen, aber im Paradies solle man sich nicht anstrengen. Er deutet auf den wunderbaren Schatten einer Korkeiche. Hier, meinte er, bis bald!

Während João im Paradies träumte, mussten wir bald zur Kenntnis nehmen, dass wir geradewegs den Pfad in die Hölle gewählt hatten. Der nach Süden gerichtete Steilhang glühte in einer unbarmherzigen Sonne. Mit einer eigentümlichen Verbissenheit negierten wir die Grundsätze unserer Calma -Philosophie. Wir verbrannten uns am schwarzen Fels die Hände zogen uns an Lavendel, Rosmarin und zähen Mastixsträuchern bergwärts. Das Wechselbad der strengen Aromatik mediterraner Kräuter betäubte unsere Sinne. Bald hangelten wir uns nur noch von Schatten zu Schatten und alle Gedanken zerflossen in der Hitze, wie die Landschaft selbst, die sich in der wabernden Luft aufzulösen drohte.

Plötzlich brach unter mir eine Felsplatte weg; ich verlor den Halt, schoß einige Meter eine Schutthalde hinab und fuhr ungebremst in die tausend Stacheln eines Ginsters. Mir war, als würden mir alle Nervenfasern einzeln und zur gleichen Zeit aus dem Leibe gedreht. Wenigstens hatte das Nach-oben-Gequäle sein Ende gefunden und ich beförderte mit viel Sorgfalt und Geduld mein übel zugerichtetes Gesäß zur Anlegestelle hinab.

Aber da waren kein João und kein Boot mehr. Nur der tintenblaue Douro glitt träge durch sein Granitbett Erst als der Tonfall unserer Rufe unseren kläglichen Seelenzustand nicht mehr verbergen konnte, stieß plötzlich hinter einem Felsturm der makellos weiße Kiel eines Bootes hervor, darauf mit versteinerter Miene unser Freund.

In Pitões das Júnias
Nach eintägiger Ruhepause nahm uns João bis nach Montalegre mit. Von dort aus erreichten wir per Anhalter die Hochebene von Pitões das Júnias, einem gottver-lassenen Nest in der Provinz Trás-os-Montes (Land hinter den Bergen), am Ostrand des Nationalparks Peneda-Gerês. Den letzten Kilometer marschierten wir durch ein Heidemoor. Den Horizont begrenzte die Silhouette eines zackigen Granitkammes, über dem sich drohend rabenschwarzes Gewittergewölk zusammen-geballt hatte. Vorbei an einigen Gastarbeiterhäusern (casa do emigrante) mit ihrer auffälligen Farbgebung und den Statussymbolen – Fernsehantenne, marmorner Treppen-aufgang, Auto – stehen wir unvermittelt in einem der transmontanen Dörfer, in dessen düsterem Gassen-labyrinth wir – zumal in der Finsternis des immer lauter drohenden Unwetters – sofort jede Orientierung verlieren.

Es ist, als wäre hier der Mensch gerade erst dem Stadium des Jäger- und Sammlerdaseins entwachsen und hätte seine Sesshaftigkeit in einer urtümlichen Granit-zivilisation verewigt. Über die Gassen kriecht in ihrer ganzen Breite eine Schicht Fäkalienbrei, aus den Türen und Mauerritzen quellen Schwaden schwarzen Rauches. Ein flammender Blitz erleuchtet die urzeitliche Kulisse. Der ungestüme Galopp einer aufgeregten Ziegenherde fegt uns in eine Mauernische, und wie toll hüpft eine Schar brauner Schweine hinterher, zum Takt von Donner und niederprasselndem Regen, und verfärbt sich unversehens ins zarteste Rosa.

Als sich der Kotbrei mit Wasser vollgesogen wie Hefeteig bläht und beginnt, über den Oberrand unserer Schuhe zu nippen, setzen wir zu einem Sprung an, erreichen eine Treppe, eine Tür öffnet sich, und wir stehen vor António Pires! Ackerbauer und Viehzüchter wie seine Ahnen, seine Ur- und Ururahnen, zurückreichend wohl bis zur Zeit der Landnahme durch die Westgoten.

Wir sind von einem Chaos schwarzer Formen umstellt: Granitquader, Holz- und Ginsterbündel, Konsolen und Steingewölbe – alles überkrustet von der Patina schwarzen Rußes vieler Jahrhunderte. Im hintersten Winkel dieser menschengerecht zugehauenen Felshöhle flackert ein rotes Herdfeuer, leckt die Tiegel und Töpfe hinauf, und wenn ein fahler Blitz die Finsternis zerreißt, bemerken wir, dass das Verlies voller Menschen ist: eine verschämt lächelnde Frau, ein weißhaariger Greis, eine Ecke voll kichernder Kinderköpfe; eine Wandseite mit sporenfleckigen Familienbildern und Devotionalien, eine andere mit Küchengerät, geräucherten Würsten, Knoblauchringen, Schafskäse und Maisfladen behängt. Keine Sekunde später versinkt alles wieder in Nacht und brüllendem Donner. Im Kamintrichter heult der Sturm und wirft fauchend die Rauchschwaden des schlecht brennenden Heidekrautreisigs in den Schlot zurück, dass wir nach Luft zu ringen beginnen.

Halb erstickt, nasse Lumpen am Leib, das war wohl das Signal, das eine Gastfreundschaft auslöste, die uns unvergesslich bleiben wird. Es sei aber angemerkt, dass wir sie nur voll genießen konnten, weil wir auf zahlreichen anderen Reisen uns in Hygieneabstinenz geübt hatten. Trotz heftiger Gegenwehr räumte das Gastgeber-Ehepaar ihr Schlafgemach, während herbeigerufene Schwestern, Onkel, Nichten, Basen und was sonst zu einer Großfamilie gehört, Laternen entzündeten, Tische und Bänke zurechtrückten, die Kessel füllten und lärmten, daß einem Hören und Sehen verging, um eine «festa» zu Ehren der Gäste zu improvisieren.

Um die Stimmung nicht im Keime zu ruinieren, erlaubten wir uns eine Unhöflichkeit, die wir nicht zu bereuen hatten. Als nämlich die Besitzer von Transistor-radios akustischen Terror auszuüben begannen, fragten wir mit unmißverständlicher Direktheit nach lebendigen Dorfmusikanten, hätten wir doch gehört – das war freilich frei erfunden – dass es hier so gute Instrumentalisten gäbe. Das saß. Bald erschienen Hirten mit alten Eschenflöten und Ziegenhauttrommeln; einer knackte die Kastagnetten, ein anderer ließ seine Finger über den Pandeiro (Tambu-rin) jagen, was das Zeug hielt und als das stämmige Töchterchen des Bürgermeisters mit einer Mandoline hereintrat, wurden die Gemächer zu eng. So ging es hinaus auf den Dorfplatz, den das Gewitter, das noch fern hinter den spanischen Bergen rumorte, rein gewaschen hatte. Erst weit nach Mitternacht schwankten die letzten Schatten ihren Granithöhlen zu, verklangen die letzten schwermütigen Flötenweisen an den Mond, der als schmale Sichel über die Bergzinnen heraufstieg.


* Rudolf Malkmus ist Biologe (Spezialgebiet Herpetologie) und Verfasser des Buches „Die Amphibien und Reptilien Portugals, Madeiras und der Azoren“ (Neue Brehm-Bücherei, Band 621)




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Portugal-Post Nr. 9 / 2000


Rio Douro
Foto: Peter Koj




Typisches Gerês-Dorf (Outeiro?). Aufnahme aus den 50er Jahren.
Foto: Domingos Dias Martins




Blick von Paradela
Foto: Peter Koj




Bauernhaus in Pitões das Júnias
Foto: Peter Koj




Bauernhaus in Pitões das Júnias
Foto: Peter Koj




Bauernhaus in Pitões das Júnias
Foto: Peter Koj




Wasserfall bei Pitões das Júnias
Foto: Peter Koj