Buch des Monats Juni 2013

Der Muff der Salazar-Jahre

Zu José Saramagos Roman Claraboia

Von Peter Koj

  Wenige Jahre vor dem Tod des portugiesischen Nobelpreisträgers José Saramago tauchte bei Aufräumarbeiten im Archiv des Diário de Notícias das lange als verschollen geltende Manuskript seines 1953 vollendeten Romans Claraboia auf. Saramago verfügte – offensichtlich wenig angetan von den literarischen Qualitäten dieses Frühwerks (alle seine berühmten Romane sind erst nach der Nelkenrevolution des Jahres 1974 entstanden) –, dass es zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht werden darf. Nach seinem Tod im Juni 2010 gab seine Witwe Pilar den Text zum Druck frei und dank des Hoffmann und Campe Verlags und den Übersetzungskünsten von Karin von Schweder-Schreiner ist das Buch nun auch für den deutschen Leser zugängig.

  Dem Roman ist ein Zitat des 1930 verstorbenen Schriftstellers Raul Brandão vorangestellt: Em todas as almas, como em todas as casas, além da fachada, há um interior escondido („In allen Seelen, wie in allen Häusern, ist etwas hinter der Fassade verborgen“). Ähnlich wie bei Brandão stehen auch bei Saramago der „kleine Mann“ und seine Nöte im Mittelpunkt. Durch eine claraboia (verglaster Teil des Daches zur Beleuchtung des Treppenhauses) schauen wir in ein Lissabonner Mietshaus mit seinen Bewohnern.

Auch wenn Saramago, ähnlich wie Brandão, aufseiten der sozial Schwachen steht, hindert ihn dies nicht, ein negatives Bild der Hausbewohner abzugeben. Anselmo ist ein Langweiler (wertet Fußballergebnisse statistisch aus), verklemmt (gegenüber seiner Frau) und autoritär (gegenüber seiner Tochter). Bei den vier Frauen nebenan herrscht, trotz eines gewissen kulturellen Anspruchs (abends lauscht man, begleitet von Handarbeiten, niveauvollen Radioprogrammen), Verdrängung, die sich bei Isaura, angeregt durch die Lektüre von Diderots La religieuse , inzestuöse Bahnen sucht.

Im ersten Stock führt D. Lídia eine zweifelhafte Existenz als amante des erfolgreichen, äußerlich aber eher abstoßenden Unternehmers Paulino Morais. In der Wohnung nebenan wohnt der brutamontes Caetano Cunha, der sich jede Nacht in den Prostituiertenvierteln herumtreibt. Seine denunziatorischen Machenschaften bilden das wichtigste verbindende Handlungselement und führen zur finalen „Katastrophe“ des Romans, der ansonsten die Einzelschicksale der verschiedenen Mietparteien im Wechsel darstellt. Im Erdgeschoss herrscht Krieg zwischen dem schwächlichen (portugiesische) Ehemann und seiner dynamischen (spanischen) Ehefrau.

Die einzigen positiven Gestalten sind der „philosophische Schuster“ Silvestre und seine dicke, gutmütige Frau Mariana. Sie. Sie nehmen einen jungen Untermieter auf, Abel Nogueira, der nach 16 unruhigen Wanderjahren hier ein Zuhause findet. Die Gespräche des Schusters, offensichtlich ein alter ego Saramagos, mit dem 50 Jahre jüngeren Abel bewegen sich auf einem hohen geistigen und menschlichen Niveau.

In diesen Dialogen der beiden Männer, vor allem den Bekenntnissen des Schusters Silvestre, ist schon das humanistische Gedankengut enthalten, das wir aus Saramagos späteren Romanen kennen, insbesondere aus Die Stadt der Blinden und Das steinerne Floß. In Claraboia ist Saramago allerdings noch weit entfernt von der ihn später auszeichnenden souveränen Erzählhaltung. Hier gibt es noch keinen Dialog mit dem Leser, das Spielen mit Begriffen, das genüssliche Zitieren von Redensarten und Sprichwörtern. Stattdessen ist die Diktion durchweg schlicht und einsträngig.

Der Roman ist, auch wenn er von seinen schriftstellerischen Qualitäten nicht an Saramagos Spätwerk heranreicht, ein wichtiges Dokument des geistigen und sozialen Klimas des salazaristischen Portugals. Hier wird – im Gegensatz zur staatlichen Propaganda von den „armen aber glücklichen“ Portugiesen – ein wenig schmeichelhaftes Bild von dem Elend der kleinen Leute, von Prekarität und Arbeitgeberwillkür, von häuslicher Gewalt, von Prüderie, Muff, Klatsch und Denunziation gezeichnet.

José Saramago, Claraboia oder Wo das Licht einfällt. Übersetzt von Karin von Schweder-Schreiner . Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2013. € 22,99