Buchtipp des Monats April 2014

Von Peter Koj

Wohin der Wind uns weht

Es war einmal ein junger Elektroingenieur in Portugal. Er war arbeitslos und hielt sich und seine 4köpfige Familie mit Mathematik-Nachhilfestunden über Wasser. Im Jahre 2009 beschloss er, sich einen seit Jahren gehegten Traum zu erfüllen und ein Buch zu schreiben. Er schloss sich in seinem Arbeitszimmer ein und schrieb zwei Jahre lang an einem Roman. Er nannte ihn O teu rosto será o último (etwa: „Dein Gesicht wird das letzte sein“) und reichte ihn ein für den Wettbewerb um den vom Verlagshaus Leya ausgeschriebenen und mit 100.000 Euro höchstdotierten Literaturpreis Portugals. Und gewann den Preis.

Ein modernes Märchen, könnte man sagen. Der Roman dieses Debütanten – und seit seiner Veröffentlichung im Jahre 2012 der „Renner“ – bietet aber wenig Märchenhaftes. Vielmehr arbeitet der Autor an der Geschichte einer Familie die ganze Grausamkeit des Salazar-Regimes auf, insbesondere die Auswirkungen des Kolonialkrieges nicht nur auf die direkt beteiligte Generation, sondern auch auf die Nachkommen. Der Großvater Augusto Mendes hat sich als Arzt in einem Dorf am Südhang des Gardunha-Gebirges niedergelassen, wo er sich den Traum von einem irdischen Paradies erfüllt. In diese Idylle gelangt die Nachricht von der Nelken-Revolution, ohne unter den Dorfbewohnern große Wellen zu schlagen.

Doch als bald darauf der Patriarch stirbt, verdichten sich die Schatten der Vergangenheit in ihrer ganzen Schrecklichkeit. Der Sohn António, der als gebrochener Mann aus dem Kolonialkrieg zurückgekehrt ist, nimmt sich das Leben, nachdem seine Frau an Krebs gestorben ist. Ihr Sohn Duarte ist die eigentliche Hauptfigur des Romans. Er ist hochmusikalisch und schon in jungen Jahren ein genialer Beethoven-Interpret. Geprägt durch den traumatisierten Vater, aber auch durch pubertäre Negativerlebnisse kann er jedoch die in ihn vor allem von den Großeltern gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Seine Zwanghaftigkeit schlägt schließlich in hasserfüllte Selbstzerstörung um. Doch der allerletzte Satz des Romans, der stark an den Schluss von Voltaires Candide erinnert, verheißt zumindest die Aussicht auf ein glückliches Ende.

Ein beunruhigender, faszinierender Roman. Mit atemberaubenden Tempo-Wechseln, die in gewissem Sinn das literarische Pendant zu der starken Präsenz des Themas Musik in diesem Roman bilden. Mit kafkaesk anmutenden Szenarien und grotesk-komischen Elementen als erleichternder Gegenpol zu all dem Blut, welches das Buch wie ein roter Faden durchzieht. Und mit einer genialen Struktur, durch die die verschiedenen weit verstreuten Motive und Handlungselemente (bis nach Buenos Aires!) sich genial zusammenfügen.

Ein großer Wurf und man darf gespannt, inwieweit dieser Roman kein bloßer desabafo ist, mit dem sich João Ricardo Pedro Erleichterung von der Belastung durch die neuere portugiesische Geschichte verschafft, sondern zu weiteren literarischen Großtaten fähig ist.

PS Der Roman wurde von der erfahrenen Übersetzerin Marianne Gareis mit Bravour übersetzt. Doch wer ist bloß auf diesen an Heimatromane erinnernden Titel gekommen? Da lob ich mir doch den Titel der französischen Übersetzung La main de Joseph Castorp . Dieser Joseph Castorp wird zwar nur ganz am Rande erwähnt. Doch seine rechte Hand, von der Duarte am Ende des Romans berichtet, vereint sinnfällig die unterschiedlichen Themen des Romans. Joseph Castorp war ein Beethoven-Interpret, der privat vor Nazi-Größen gespielt hat. „Doch dann war der Krieg vorbei, und an dem Tag, als ihm klar wurde, dass er jahrelang für wahre Monster Beethoven gespielt hatte, hackte er sich die rechte Hand ab und verschwand“ (S. 228).

João Ricardo Pedro, Wohin der Wind uns weht Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis. Suhrkamp Verlag Berlin 2014 € 18,95